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Danach

Danach

Titel: Danach
Autoren: Koethi Zan
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Tagebuchschreiben. In der Schulbibliothek fanden wir Almanache, medizinische Fachzeitschriften und sogar ein Buch mit Versicherungsstatistiken von 1987. Wir sammelten Daten, rechneten, dokumentierten, füllten Zeile für Zeile mit Beweisen für die menschliche Verwundbarkeit.
    Anfangs waren die Tagebücher in acht einfache Kategorien unterteilt, aber mit zunehmendem Alter stellten wir entsetzt fest, wie viele Dinge es gab, die noch schlimmer waren als »Flugzeugabstürze«, »Haushaltsunfälle« und »Krebs«. Schweigend saßen wir auf der sonnigen Fensterbank meines Dachzimmers, bis Jennifer nach reiflicher Überlegung mit fettem schwarzem Edding neue Überschriften zu Papier brachte: »Menschenraub«, »Vergewaltigung«, »Mord«.
    Unser großer Trost waren die Statistiken. Wissen ist Macht, dachten wir. Wir wussten, dass die Wahrscheinlichkeit, in einem Tornado zu sterben, eins zu zwei Millionen betrug, die eines tödlichen Flugzeugabsturzes eins zu 310000 und die, von einem auf die Erde fallenden Asteroiden getroffen zu werden, eins zu 500000. In unserer verzerrten Wahrnehmung verbesserte allein die Tatsache, dass wir diese endlosen Zahlenreihen kannten und auswendig aufsagen konnten, unsere Überlebenschancen. Magisches Denken lautete das Urteil der Therapeuten, nachdem ich eines Tages nach Hause gekommen war und alle siebzehn Tagebücher gestapelt auf dem Küchentisch vorgefunden hatte, neben meinen Eltern, die mit Tränen in den Augen auf mich warteten.
    Inzwischen war ich sechzehn, und Jennifer war bei uns eingezogen, weil ihr Vater zum dritten Mal mit Alkohol am Steuer erwischt worden war und ins Gefängnis musste. Wir hatten beschlossen, dass Autofahren in unserem Alter zu gefährlich ist (den Führerschein machten wir erst eineinhalb Jahre später), und besuchten ihn daher mit dem Bus. Eigentlich hatte ich Jennifers Vater noch nie gemocht, und nun stellte sich heraus, dass es ihr genauso ging. Rückblickend verstehe ich nicht, warum wir ihn überhaupt besuchten, aber wir fuhren zuverlässig jeden ersten Samstag im Monat ins Gefängnis. Meistens sah er Jennifer nur an und weinte, aber manchmal versuchte er auch vergeblich, ihr etwas zu sagen. Jennifer verzog keine Miene und starrte ihn mit einem so ausdruckslosen Blick an, wie ich ihn nie wieder an ihr gesehen habe, nicht einmal später im Kellerverlies. Während die beiden sich anschwiegen, saß ich ein Stück entfernt und rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Ihr Vater war das einzige Thema, über das sie nie mit mir sprach – nicht ein einziges Wort –, und so hielt ich auf der Rückfahrt im Bus stumm ihre Hand und ließ sie in Ruhe.
    Im letzten Sommer vor dem College erreichte unsere Paranoia ihren Höhepunkt. Bald würden wir mein Dachzimmer, das wir uns die letzten Jahre geteilt hatten, verlassen und unbekanntes Terrain betreten müssen: den Uni-Campus. Als Vorbereitung schrieben wir die Niemals-Liste und hängten sie an die Rückseite meiner Zimmertür. Jennifer litt unter Schlafstörungen und stand oft mitten in der Nacht auf, um neue Punkte auf die Liste zu schreiben: Niemals abends alleine in die Unibibliothek gehen, niemals weiter als sechs Parkplätze vom Zielort entfernt parken, niemals einem Fremden bei einer Reifenpanne helfen. Niemals, niemals, niemals.
    Im Wohnheim wählten wir ein Zimmer in einem Flachbau, damit wir im Brandfall gefahrlos aus dem Fenster springen konnten. Wir studierten genauestens den Campusplan und reisten drei Tage früher an, um die Fußwege zwischen den einzelnen Gebäuden auf Beleuchtung, Sichtbarkeit und Nähe zu öffentlichen Einrichtungen zu prüfen. Wir packten gewissenhaft alle Schätze ein, die wir uns im Laufe der Jahre zu Weihnachten oder zum Geburtstag hatten schenken lassen: Mundschutz, antibakterielle Seife, Taschenlampen, Pfefferspray.
    Im Wohnheim angekommen, holte Jennifer schon ihr Werkzeug hervor, bevor wir überhaupt die Koffer ausgepackt hatten. Sie bohrte Löcher in unseren Fensterrahmen, und ich schob dünne, aber bruchsichere Metallstäbe durchs Holz, damit man das Fenster auch bei eingeworfener Scheibe nicht von außen öffnen konnte. Wir besorgten uns bei der Campus-Aufsicht die Sondererlaubnis für ein zusätzliches Bolzenschloss an unserer Zimmertür. Neben dem Fenster bewahrten wir eine Strickleiter und zwei Zangen auf, damit wir die Metallstäbe wieder entfernen konnten, falls wir schnell flüchten mussten. Als krönenden Abschluss hängte Jennifer noch die Niemals-Liste an die
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