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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still
Autoren: Christa von Bernuth
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Messer liefern konnte.
    Sabine hatte geredet und geredet, und David hatte bislang nicht viel tun müssen, um den schier endlosen Strom an Geständnissen nicht versiegen zu lassen. Jemand wie Sabine machte Therapien, und zwar offenbar eine nach der anderen, doch nur aus dem einen Grund: um wieder und wieder ihre Probleme den Leuten zu beichten, die verpflichtet waren, ihr zuzuhören. Ihr das zu geben, was sie von anderen nicht bekam: Liebe, Mitleid, Fürsorge. So bekam sie wenigstens für kurze Zeit ein Gefühl für sich, ihre Persönlichkeit, ihre Identität.
    Und so waren sie in epischer Ausführlichkeit Sabines Kindheit durchgegangen, die sie im Schatten eines älteren Bruders verbracht hatte. Sabines Jugend, in der sie Pickel bekommen hatte und dick geworden war und deshalb noch weniger geliebt wurde als in ihrer Kindheit. Sabine als junge Erwachsene, die den Sex entdeckt hatte und damit eine Möglichkeit, Männer zumindest für kurze Zeit für sich einzunehmen. Sabine als Endzwanziger, als sie feststellte, dass die Männer, die sie wollte, sie nicht liebten, sondern ihre übertriebene Willigkeit nur ausnützten. Sabine als Mittdreißigerin, als sie ihre sichere Beamtenposition im Finanzministerium aufgab, weil ihr ein Therapeut eingeredet hatte, sie sei zur Künstlerin berufen. Sabine als Enddreißigerin, als ihr langsam schwante, dass dieser Tipp ein schlechter gewesen war: Niemand hatte ihre künstlerischen Erzeugnisse ausstellen oder kaufen wollen, und die Galerieszene erwies sich sowieso als total korrupt. Sabine als Anfangvierzigerin, fast pleite, deren Eltern ihr widerwillig Geld zum Überleben überwiesen, jeden Monat eine Summe, die Sabine als viel zu klein für ihre Bedürfnisse erachtete. Und nun, langsam aber sicher, kamen sie zur Gegenwart oder vielmehr: der sehr nahen Vergangenheit.
    Janosch. Wie sie ihn kennen gelernt hatte. Wie er sie dazu gebracht hatte, seine Handlangerin zu werden – denn dass sie nie mehr gewesen war, das verstand sich für David von selbst. Sabine eine Serienmörderin, die jede Tat bis ins Kleinste plante und keinerlei verwertbare Spuren hinterließ? Dafür war sie nicht intelligent genug.
    »Janosch«, sagte David. Seine Kehle fühlte sich an wie Sandpapier. »Wie habt ihr euch...«
    Sabine saß jetzt neben ihm, mit gekreuzten Beinen. Er sah zu ihr hoch, obwohl das in seiner seitlich liegenden Position anstrengend war (denn die Fesseln hatte sie ihm trotz aller gewährten Vertraulichkeiten nicht einmal gelockert), damit sie nur ja nicht glaubte, sein Interesse an ihrer Person ließe auch nur für Sekunden nach. Sie antwortete nicht, dachte offenbar darüber nach, wie viel sie ihm erzählen durfte. Dann fiel ihr wohl ein, dass er diese Gefangenschaft ohnehin nicht überleben würde, denn ein seltsam eitles Lächeln umspielte plötzlich ihren Mund.
    »Es war, als ich das erste Mal ein Seminar besuchte«, begann sie und sah dabei wieder schmallippig vor sich hin. »Er hat mich in Gersting in der S-Bahn angesprochen, als ich am letzten Seminartag nach Hause fuhr. Warum willst du das wissen?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn.
    Dann, David konnte es sehen und atmete innerlich erleichtert auf, entspannte sich ihr Gesicht, siegte der Wunsch, über Janosch und sie zu sprechen.

28
    2003
    Es war im Frühjahr gewesen, als Janosch spürte, dass die Lust in ihm wuchs und wuchs, und sich kaum noch eindämmen ließ. In dieser Zeit überfiel er eine polnische Tramperin, schlug sie nieder, betäubte sie mit Stoff, an den er in seinem Job mühelos herankam, und schnitt an ihr herum. Die Tramperin überlebte, ging aber nicht zur Polizei: Er war wieder einmal davongekommen. Aber das war keine Erleichterung für ihn, nicht mehr, denn mittlerweile wusste er zu gut Bescheid. Er konnte sich nichts mehr vormachen. Er wusste jetzt, wie man Leute wie ihn nannte, und dass sie selbst in der Knasthierarchie zum Abschaum des Abschaums zählten, fast so schlimm wie Kinderschänder. Er wollte nicht zu diesen Leuten gehören, er wollte normal sein, eine Freundin haben, vielleicht irgendwann Kinder.
    Aber normaler Verkehr klappte bei ihm nicht, und er wusste, dass junge Frauen das erwarteten. Sein Hass auf sich wuchs. Und dann fiel ihm eines Tages wieder der Brief seiner Großmutter an seinen Vater in die Hände, den er damals, vor Jahren versteckt hatte, und er glaubte plötzlich zu wissen, warum er war, wie er war. Es war ein »Auftrag« seiner Familie, nach der Wahrheit zu suchen, nach so vielen Jahren
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