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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Lilly Lindner
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sich angefühlt hat, ein Mensch zu sein. Sie hat sich daran gewöhnt, barfuß zu laufen und am Abend die Splitter der Zeit aus ihren Fersen zu ziehen. Sie hat sich daran gewöhnt, nackt zu sein und unbedeckt.
    Sie kennt jeden Winkel in diesem Raum.
    Sie hat an jedem verschlossenen Fenster gerüttelt.
    Sie hat an jeder unbeweglichen Türklinke gezerrt.
    Sie hat alles versucht und mehr.
    Aber sie wird niemals.
    Entkommen.

    Die junge Frau ohne Kleider. Sie ist dankbar, als es endlich vorbei ist. Sie ist dankbar, als das Ende ihrem Namen ein immerwährendes Bekenntnis zuspricht.
    Sie denkt ein letztes Mal an ihren Mann und an ihren Sohn. Sie ist traurig, weil sie weiß: Sie wird die beiden nie wiedersehen.
    Aber so verläuft das Leben. Es geht vorbei.
    Und Zeit kommt nie wieder zurück.
    Nicht hier. In dieser Stadt.
    Am Waldrand.

6
    E in junges Mädchen steht in einem fremden Raum und hält die Luft an, um nicht zu ersticken. Der mürrische Mann, der neben ihr steht, betrachtet unbewegt ihren regungslosen Brustkorb.
    »Dein Bett«, sagt er schließlich und zeigt auf einen wackligen Holzrahmen mit einer unbezogenen Matratze, der in der hintersten Ecke des kleinen Zimmers steht. Das Mädchen blickt sich unsicher um, auf der anderen Seite, direkt unter dem Fenster, steht noch ein weiteres Bett.
    »Da schläft Josh«, sagt der Mann.
    Dann mustert er sie erneut mit einem geringschätzigen Blick und überlegt anscheinend, was es noch zu sagen gibt. Schließlich fragt er mit einem ungeduldigen Tonfall in seiner ohnehin schon rauhen Stimme: »Hast du Hunger?«
    »Nein«, antwortet sie und schüttelt ihren Kopf. Sie versucht sich daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hat, hungrig zu sein, aber sie weiß es nicht mehr. Ihre Empfindungen sind taub, betäubt durch einen Schmerz, der größer ist als alles, was sie kennt.
    Ein einziges Gefühl ist geblieben.
    Es ist leer und gleichgültig, beständig, niemals schwankend, nicht erdrückend, nicht überwältigend, aber trotzdem so viel stärker als jeder andere Teil von ihr.
    Vielleicht ist es einfach die ohnmächtige Leere.
    Oder das riesengroße schwarze Loch in ihr.
    Sie weiß es nicht.

    »In den Schrank da drüben kannst du deine Kleidung packen, Josh hat dir die Hälfte freigeräumt«, sagt der Mann unwirsch. »Falls du Bücher hast oder solchen Kram, stell einfach alles mit in sein Regal, da ist ausreichend Platz. Das Bad ist gegenüber, und wenn du doch noch Hunger bekommst, geh in die Küche und hol dir etwas aus dem Kühlschrank.«
    Das ist alles.
    Mehr hat er ihr nicht zu sagen.
    Ohne ein weiteres Wort verlässt er das Zimmer.
    Und sie weiß: Sie ist nicht willkommen. Sie ist eine Last.
    Ein Eindringling in eine besetzte Welt.

    Die Zeit zieht dahin und zerrt sie mit sich. Unsanft und ungeduldig. Aber sie weigert sich nicht, sträubt sich nicht, lässt sich einfach von Sekunde zu Sekunde schieben, über Minuten stolpern, durch Stunden fallen.
    Und irgendwo aufschlagen.
    In dieser Einöde.

    Sie steht da, in dem fremden Zimmer, mit ihrem Kaktus in der Hand und weiß nicht, wohin mit sich selbst. Schließlich setzt sie sich auf das Bett – auf ihr neues Bett – und sieht sich schweigend um. Alles ist schlicht und ordentlich. Außer den beiden Betten, dem Schrank und dem Regal steht nur noch ein Schreibtisch mit zwei Stühlen in dem Zimmer. Die Wände sind weiß, keine Bilder, keine Poster – nur ein kleiner zerrissener Zettel hängt über dem Bett am Fenster: »Fear can hold you prisoner. Hope can set you free.«
    Sie kennt den Film, aus dem diese Worte stammen.
    Sie hat ihn vor einigen Jahren gesehen.
    Damals.
    In einem anderen Leben.
    Auf dem Bett liegt Wäsche, ganz in Grau. Sie steht auf, um das Bett zu beziehen. Das Laken ist eingelaufen, und nur mit Mühe gelingt es ihr, den Stoff über die Matratze zu spannen, ohne dass er zerreißt. Aber sie ist geduldig, und ihre fließenden Bewegungen sind achtsam, wie sie selbst. Die Bettdecke ist klumpig und kratzt, aber das ist ihr egal. Sie nimmt es wahr, doch nur für den flüchtigen Hauch einer Empfindung – irgendwo zwischen Gehirn und Gefühlen geht alles verloren.
    Sie stellt ihren Kaktus auf das Fensterbrett, er passt nicht in diesen Raum, er sieht einsam aus. Aber sie kann ihm nicht helfen.
    Ihr Kopf dröhnt. Nicht laut und tosend wie die rotierenden Blätter eines Helikopters, sondern dumpf und widerhallend wie ein Schneepflug auf einer gepflasterten Straße. Alles dreht sich. Die Zeit um die Welt, die Welt
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