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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Lilly Lindner
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unverändert im Mittelpunkt steht. Keine Träne, die niemals trocknet, kein Lächeln, das für immer bleibt.
    Alles im Wandel, alles im Umbruch.
    Alles im Rhythmus der tragenden Zeit.

    Die Stadt am Waldrand gründet auf den menschlichen Mechanismen der umständlichen Beständigkeit. Hier wird zum einen gemessen, zum anderen gefühlt. Eine Minute ist eindeutig eine Minute, wird niemals mehr sein oder weniger. Sechzig Sekunden sind eine Minute, werden niemals mehr sein oder weniger. Und doch kann eine Minute sich anfühlen wie die Ewigkeit, und eine Stunde kann verstreichen, als dauerte sie keine Minute. Denn abhängig von Ursache und Wirkung verändert sich das menschliche Empfinden, und somit das Wahrnehmen der Zeit. So kommt es hin und wieder vor, dass ein bestürzter Blick auf eine beschlagene Uhr geworfen wird, weil sie aus irgendeinem Grund nicht richtig zu funktionieren scheint.

    Die Stadt am Waldrand ist viel größer als die Stadt am See. Aber sie ist nicht halb so tiefgründig, nicht halb so weit, nicht halb so weise und nicht halb so vollkommen wie die am See. Die Stadt am Waldrand hat unzählige feste Regeln, von denen viele nicht eingehalten werden, weil sie von denselben Menschen, die sie entworfen haben, im gleichen Augenblick wieder verworfen werden. Genau so, wie dieselben Menschen, die sich darum bemühen, diese Stadt vor dem Verfall zu retten, sie ohne nachzudenken zerstören.
    Die Stadt am Waldrand wächst an ihren Fehlern, aber die riesigen Wolkenkratzer im Zentrum versperren die Sicht. Die Stadt am Waldrand stürzt ein, weil der Boden erschüttert, bei jedem Sprung, den jemand aus einem Fenster macht. Und doch hat sie ihren Zauber, diese wundervolle Stadt. Denn jeder, der schon einmal die geheime Lichtung im Wald gefunden hat und zwischen den drei mächtigen Bäumen der Zeit verweilen durfte, jeder dieser Menschen weiß: Diese Stadt ist nur ein winziger Ort in einer riesigen Welt, die irgendwo einen Anfang hat und ein Ende, das irgendwo hinführt.

    Die Stadt am Waldrand. Früher gab es hier viele kleine Fachwerkhäuser mit hübschen Giebeldächern, umgeben von Büschen und Bäumen und blühenden Sträuchern, doch mittlerweile ist der Wald nichts weiter als ein fast vergessenes Randgebiet. Ab und zu verirrt sich ein Reisender an diesen Ort und fragt, warum ausgerechnet eine Stadt wie diese einen so schönen Namen trägt. Aber diese Frage bleibt unbeantwortet. Die Bewohner zucken nur mit ihren Schultern und schieben es auf die Zeit, die sich verschoben haben muss, irgendwo in diesem Gefüge.
    Ja. Die Stadt am Waldrand.
    Sie türmt sich bis hoch hinauf in den Himmel, aber wie die Luft zwischen den Wolken tanzt, kann keiner sehen. Und falls es doch irgendwer sieht, das Lichtspiel in der Ferne, das Rauschen in der Nacht, das Fallen der ersten Regentropfen und das Funkeln in jedem Augenblick – dann bewahrt er dieses Geheimnis für sich.
    Die Stadt am Waldrand, die Stadt der Zeit. Hier sterben jeden Tag Menschen. Und jeden Tag werden neue geboren. Hier bleibt nichts und niemand für immer. Hier gibt es keinen einzigen Tag ein zweites Mal.
    Hier endet alles.
    Alles und nichts.

Teil 1

Zeit
    1
    J enny Emmet, vierzehn Jahre alt, bernsteinfarbene Zauberaugen, lange rötliche Haare, papierweiße Haut. Sie ist auf dem Weg zum Schlosspark, um die Enten zu füttern. Es regnet, aber das stört sie nicht. Ihr hellblaues Kleid ist längst durchnässt und klebt an ihrem zierlichen Körper wie eine zweite Haut. Andere Menschen eilen an ihr vorbei, Regenschirme in den Händen, Kapuzen auf dem Kopf, so dass man sie kaum erkennen kann. Einige von ihnen werfen Jenny windschiefe Blicke zu. Es gehört sich nicht, in einem kurzen Kleid durch den Regen zu spazieren.
    Barfuß.
    Mitten in der großen Stadt am Waldrand.
    Aber Jenny ignoriert die Blicke. Sie ist es gewohnt, angestarrt zu werden. Das ist ihr längst egal. Außerdem mag sie das Gefühl von dem nassen, kühlen Stoff auf ihrer glühenden Haut. Sie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und denkt einen Moment über das Fieber nach. Es ist unsichtbar, man sieht es ihr nicht an. Ihre Wangen sind weiß, genau wie ihre Stirn und ihre dürren Arme. Sie ist Schneewittchen mit rotem Haar. Denn das Fieber ist ruhig, es lodert nicht heiß wie Feuer; es ist leise knisternd, lautlos flüsternd. Jenny kennt es schon seit Jahren – sie ist aufgewachsen mit diesem unbändigen Flammenmeer. Es wohnt in ihrem Körper, es nagt an ihrer Seele, es frisst ihren
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