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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Lilly Lindner
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am Himmel erkennt er das unscheinbare Licht einiger längst erloschener Sterne.
    Was für ein schöner Abend.
    Der alte Mann ist dankbar für diese Zeit.
    Sein gutmütiges Herz schlägt einen beruhigenden Takt, er spürt das Echo in seinen Adern, er hört das Pochen in seinem lauschenden Gehör.
    Wie die Zeit vergeht.
    So gemächlich und gelassen.
    Und doch so aufgeregt und flink.
    Jeden Tag hat sie einen anderen Namen, jeden Tag erzählt sie eine andere Geschichte. Und trotzdem ist sie eins mit sich selbst, das Eine über allem anderen, einzigartig in jedem Augenblick, ewig für alle Gezeiten. Unerschöpft schöpft sie Ströme aus ihrem regelmäßigen Fluss, sie tanzt über Geröll, über Felsen, über Kieselsteine; sie mündet in Seen, windet sich durch Täler, verschwindet unterirdisch hinter einem großen Busch, taucht wieder auf, sammelt sich, verbündet sich, erreicht das Meer und breitet sich dort aus, in alle Richtungen und immer weiter.
    Im Meer weiter.
    Der alte Mann lächelt.
    Er wird sie vermissen, diese Zeit.
    Er wird ihrer gedenken, auch wenn sie ihm den Rücken zukehrt und ihre Reise ohne ihn fortsetzen wird. Denn es war schön, eine Weile lang ihr Begleiter zu sein.
    Hand in Hand.
    An ihrer Seite.

    Der alte Mann hustet. Der Wind ist rauh und zerrt an der Luft; wie im Spiel wirbelt ein kleiner Sturm über die Dächer der Stadt am Waldrand. Er schlüpft zwischen den Häusern hindurch und breitet sich unermüdlich aus. Aber der alte Mann weiß: Wenn der tobende Sturm die geheime Lichtung im tiefen Wald erreicht, wird er ein letztes Mal aufgeregt umherwirbeln, und kurz darauf wird er sich erschöpft an die drei riesigen Bäume schmiegen und den Wind zurück in die sanften Hände der Luft legen. Die Wiesel und die Erdhörnchen werden sich zu dem schläfrigen Sturm gesellen, dort, unter der Kastanie, im schlummernden Gras.
    Der Mann erinnert sich gut an den Wald, als Kind hat er oft dort gespielt. Er ist über Felder getobt, auf Bäume geklettert, zwischen Felsvorsprüngen verschwunden und die Hügel hinuntergerollt. Er war schneller als der Wind, geschmeidiger als die Luft, und er hat sie alle gekannt – jedes Wiesel, jedes Erdhörnchen und auch die vielen Maikäfer.
    Aber das ist nun schon lange her.
    Und der alte Mann weiß, dass er nicht mehr dorthin zurückkehren wird, nicht in dieser Zeit. Aber er weiß auch, dass er sie eines Tages wiedersehen wird, die kleinen Waldtiere und die großen Bäume. Denn dort, wo das Ende der Zeit und der Anfang der Welt sich überschneiden und gemeinsam in der Unendlichkeit verschwinden, dort, an diesem Ort – ist alles möglich.

    Der alte Mann lehnt sich erleichtert zurück. Es ist gut, wie es ist. Es ist genau so, wie es sein soll. Der Rhythmus seines Herzens bestätigt diesen Verstand. Und auch der Wind und die Luft verneigen sich vor ihm und verabschieden sich kurz darauf lautlos aus seinen Erinnerungen.
    Denn es ist an der Zeit für die Nacht.
    Ihre Gebiete an sich zu nehmen.

    Der Schaukelstuhl auf der kleinen Veranda in der Stadt am Waldrand bewegt sich leise knarzend vor und zurück.
    Vor und zurück. Vor und zurück.
    Immer langsamer werdend.
    Genauso wie der Atem des alten Mannes – immer ruhiger und ruhiger, bis hin zum ewigen Stillstand.
    Der Mann und der Stuhl.
    Und die Zeit.

5
    E ine wunderschöne Frau in einem weißen Kleid mit weißen Schuhen schlendert über den großen Marktplatz. Unter ihrem Arm trägt sie einen Korb mit Gemüse, die Selleriestangen gucken oben heraus, und ein Bund frischer Möhren schmiegt sich eng an einen riesigen Blumenkohl.
    Die Frau sieht jung aus, obwohl sie eine gelassene Reife ausstrahlt. Wie alt sie wohl sein mag? Die Männer, die ihr, fasziniert von ihren schlanken Fesseln, hinterherblicken, schätzen sie auf Anfang dreißig, die Frauen, die ihr neidische Blicke zuwerfen, flüstern: »Sie ist bestimmt schon vierzig. Sie hat nur Glück, dass sie von der Zeit verschont geblieben ist.«
    Wie alt die junge Frau in Wirklichkeit ist, spielt keine Rolle – denn sie hat sich noch nie viel aus Zahlen gemacht. Sie unterrichtet Klavier und Violine an einer Musikschule für schwerbehinderte Kinder und kann sich nichts Schöneres vorstellen, als von einem anstrengenden, aber erfüllten Arbeitstag nach Hause zu ihrer Familie zu kommen. Sie liebt ihren Mann, obwohl er manchmal zu viel arbeitet und hin und wieder zu wenig lacht; und sie liebt ihren Sohn, obwohl er jeden Tag irgendein Geschirrstück zerdeppert und jede Nacht mit
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