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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Lilly Lindner
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gebrechlicher. Wie ein kleiner Junge, der auf unsicheren Beinen seine ersten Schritte macht, tastet er sich von seinem Schaukelstuhl zu dem kleinen Balkontisch, auf dem eine Tasse mit dampfendem Tee steht, und anschließend wieder zurück.
    Er lässt sich erleichtert in die weichen Polster sinken. Er trinkt langsam, Schluck für Schluck, seinen Pfefferminztee, und denkt dabei weiterhin über die Wahrhaftigkeit des menschlichen Daseins nach. Aber alles, was er darüber weiß, ist simpel: Keine Wahrheit ist perfekt. Keine Wahrheit ist außergewöhnlich richtig. Keine Wahrheit ist fehlerfrei. Keine Wahrheit besitzt eindeutige Grenzen. Aber jede Wahrheit begründet sich selbst. Jede Wahrheit erkennt sich in dem Spiegelbild, das sie auf ihre eigenen Schatten wirft.

    Der alte Mann zündet sich eine Zigarre an. Eigentlich raucht er nicht. Aber an diesem Abend fühlt er einen seltsam drängenden Sehnsuchtsschimmer in seiner Brust. Er erinnert sich an seinen Vater: ein guter Mann, ein ganzes Leben lang. Niemals untreu, niemals unpünktlich. Immer zuverlässig, immer aufrichtig, stets hilfreich und zuvorkommend. Er hat ihn gelehrt, wie man Frauen behandelt, wie man ihnen die Türen aufhält und wie man verhalten auf ihrer Türschwelle verweilt, bis man eines Tages eingelassen wird. Im Alter hatte er angefangen, Zigarre zu rauchen. Nicht oft. Nur hin und wieder, aber der alte Mann denkt an seinen Vater und will den vertrauten Zigarrengeruch noch einmal in seiner Nase kitzeln spüren.
    Nachdem er die Zigarre aufgeraucht hat, holt der alte Mann sich eine Decke aus der Wohnung. Es ist kalt geworden. Die Nacht ist hereingebrochen, die Straßen haben sich geleert. Der Mann lehnt sich einen Moment über die Brüstung. Sein zögerndes Herz schlägt gegen das kühle Metall. Er genießt das Gefühl. So lebendig hat er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Er schließt seine Augen, er macht sie wieder auf, und plötzlich denkt er zurück an seine Mutter: eine gute Frau, ein ganzes Leben lang. Niemals untreu, niemals unpünktlich. Immer zuverlässig, immer aufrichtig, stets hilfreich und zuvorkommend. Sie hat ihn gelehrt, wie man das Leben behandelt, wie man Türen öffnet, für andere und für sich selbst; wie man gibt, ohne zu nehmen, und annimmt, ohne zu hinterfragen.
    Was für ein Glück.
    Wenn man die Gabe besitzt, Zeit aus Zeit zu ziehen, ohne an ihr zu zerren, ohne sie zu übereilen, ohne den Anschluss zu verlieren.

    Der alte Mann fühlt die Nachtluft an seinem Nacken vorbeistreifen. Seine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er kann alles sehen, was er sehen möchte. Und das, was er nicht sehen kann, das ist trotzdem irgendwo da. Er weiß, wie groß die Welt ist. Er weiß, wie viel er nicht weiß. Er kennt sich aus mit der Wissenschaft der Zeitlosigkeit; und gerade deshalb weiß er, dass er nichts über die Zeit weiß, das sie in ihre Schranken verweisen könnte. Er kennt ihre Gnade und ihre Ungnade, er kennt die Ungeduld der ungewissen Minuten und das beharrliche Klopfen der stetigen Stunden.
    Er hat sie alle gesehen.
    Die schönen und die hässlichen Zeiten.
    Er hat ihnen allen entgegengeblickt, er ist niemals davongelaufen. Kein einziges Mal in seinem langen Leben. Und dieses Leben hat es ihm manchmal nicht leichtgemacht – seine Frau hatte drei Fehlgeburten und war schließlich in tiefes Schweigen verfallen. Zwei Jahre lang hat sie kein Wort mehr gesprochen, hat nur existiert, ohne teilzuhaben an irgendetwas. Also hat er für sie gesprochen. In ihrem Namen. Ohne sie zu bevormunden. Mit der Achtsamkeit, mit der nur ein Mensch für einen anderen Menschen sprechen kann, der dessen Sprache auswendig beherrscht, ohne über sie zu herrschen. Und als seine Frau eines Tages wieder zurückgefunden hat, in die Welt der Klänge und Farben, da hat sie ihn eine lange Zeit einfach angelächelt, und dann hat sie sein weises Gesicht in ihre sanften Hände genommen und gesagt: »Danke.«
    Mehr nicht.
    Nur ein Wort.
    Aber wenn man alles auf einmal sagen möchte, dann sagt man am besten nicht allzu viel. Sonst gerät man ins Straucheln oder ins Stammeln, oder man verrät das Ende vor dem Schluss. Ja. Im Labyrinth der Worte muss man behutsame Sätze vorwärts machen. Man darf nicht hasten, sonst verhaspelt man sich.
    Man darf nicht rennen, sonst verrennt man sich.
    Aber man darf schweigen.
    Solange man die Stille sucht.

    Der alte Mann blickt nachdenklich in die Nacht. In der Ferne sieht er die hell beleuchtete Fassade des Schlosses,
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