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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Lilly Lindner
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um die Zeit, jeder Augenblick um ein Geschehen, jedes Geschehen um einen Augenblick. Alles wendet sich ab. Die Zeit von der Vergangenheit, die Gegenwart von dem Geschehenen, die Zukunft von allem, was nicht mehr sein wird.

    Sie steht einen Moment neben dem Bett. Sie lauscht auf ein bekanntes Geräusch. Irgendeins. Das sie erkennt.
    Aber sie kann nichts hören.
    Nach einer Weile beginnt sie, ihre beiden Koffer auszupacken. Viel hat sie nicht mitgenommen, es ging alles so schnell.
    Sie legt ihre Kleidung in den Schrank, so sorgfältig, als würde ihr Leben davon abhängen. Dabei ist es längst vorbei. Sie zupft Ecken zurecht, streicht Falten glatt, überprüft, ob die Pullover bei den Pullovern liegen, die T-Shirts bei den T-Shirts und die Kleider bei den Kleidern.
    Alles ist okay.
    Sie hat keinen Fehler gemacht.
    Anschließend stellt sie die acht Bücher, die sie wahllos in einen der Koffer geworfen hat, in das lange Regal an der Zimmerwand. Zuerst sortiert sie alle nach Größe, dann nach Titeln, schließlich nach Farben, und letztendlich stellt sie die Bücher einfach ungeordnet ins Regal.
    Es ist egal.
    Sie weiß, dass Unordnung nur existiert, weil die Menschen sie einer Ordnung unterordnen – weil Menschen immer in Kategorien, Gefügen, Zugehörigkeiten, Anordnungsweisen und Systematiken denken. Ja. Sie hat aufgepasst in der Schule, als der Erdkundelehrer, der viel lieber von der Welt sprach als von der Erde, sich in den unzähligen Möglichkeiten der formbaren Realität verloren hat. Es war schön gewesen, ihm zuzuhören, seiner suchenden Stimme zu lauschen, den Beweisen und Widerlegungen seiner Theorien zu folgen und die verknoteten Gesten seines jungenhaften Übermutes zu entwirren.
    Aber das war im letzten Jahr gewesen.
    In der neunten Klasse.
    Nun ist sie in der Oberstufe und hat einen neuen Erdkundelehrer, der sich ausschließlich für Plattentektonik und das Vorkommen von Erdöl interessiert.
    Aber da sie kein Interesse mehr hat.
    An irgendetwas.
    Ist das okay.

    Ihr Hals ist trocken. Sie überlegt, ob sie Durst hat, aber sie weiß es nicht. Sie weiß vieles nicht mehr, was sie vorher wusste. Aber Zeiten ändern sich. Genau wie Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen. Das versteht sie. Das beruhigt sie. Es gibt Gesetze in den Mechanismen der verhakten Zeitgefüge, die niemand verändern oder einsehen kann. Sie sind einfach da und funktionieren.
    Sie lächelt.
    Zum ersten Mal an diesem Tag.
    Für den Bruchteil einer Sekunde.
    Dann werden ihre Gesichtszüge wieder alt und schlaff. Mit leeren Augen blickt sie in ihre Koffer. Nur das Tagebuch, eine Zahn- und eine Haarbürste, der zottelige Stoffdelphin und ein Foto befinden sich noch darin. Sie möchte das Auspacken beenden. Aber sie ist zu müde. Also setzt sie sich auf das Bett und starrt abwechselnd in die beiden Koffer. Vielleicht wartet sie darauf, dass irgendetwas geschieht. Vielleicht hofft sie auf ein Wunder.
    Wer weiß?
    Sie weiß es nicht.
    Sie sitzt einfach da.
    Und verharrt.

    Irgendwann fängt sie sich wieder, aus dem tiefen Fall. Sie blinzelt dem grellen Licht entgegen, es ist hell und dunkel zugleich – Gleichgültigkeit macht sich breit. Gähnende Leere verschluckt sich selbst, wird überlagert von dem Ächzen der antriebslosen Zahnräder der kaputten Zeit.
    Sie reißt sich los.
    Von diesen Gedanken.
    Denn sie hasst sich für diesen Schmerz.
    Sie hat überlebt. Sie ist ein Mädchen des Glücks. Es muss weitergehen. Irgendwie. Sonst hätte sie auch einfach sterben können. Wie alle anderen.
    Sie nimmt das Tagebuch aus dem einen Koffer, legt es in eine kleine Nische, die sich am Kopfende des Bettes befindet, und schiebt kurz darauf den Delphin unter die kratzige Bettdecke. Der erste Koffer ist leer, sie schiebt ihn unter das Bett, dort kann sie ihn nicht sehen, dort erinnert er sie nicht an all das, was sie zurückgelassen hat.
    Aus dem zweiten Koffer nimmt sie das Foto. Es ist zerknittert, also legt sie es auf ihren Schoß und streicht es glatt. Dann blickt sie in die vertrauten Gesichter. Es sind ihre Eltern und ihre Zwillingsschwester Cassie. Auch sie selbst ist dort zu sehen – sie ist die einzige Fremde auf dem Bild, denn sie erkennt ihr Lächeln nicht mehr.
    Zu lange ist es her.
    Wochen oder Monate – oder Jahre?
    Es spielt keine Rolle, wenn die Zeit abbricht.

    Sie schluckt. Und schluckt. Es ist schwer zurückzusehen. Aber sie tut es doch. Denn dort auf dem Foto sitzt ihre lächelnde Familie im blühenden Garten, vor dem Haus, in
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