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Curia

Curia

Titel: Curia
Autoren: Oscar Caplan
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Sekretär das Arbeitszimmer verlassen hatte, setzte Kardinal St. Pierre sich in einen Sessel vor Kardinal Ottolenghi.
    Giuscardo Ottolenghis Nase war so spitz wie die Hellebarde eines Schweizergardisten. Als Zerberus der kirchlichen Glaubenslehre war er nach dem Papst der mächtigste Mann am Heiligen Stuhl. Er hielt den Blick starr auf Kardinal St. Pierre gerichtet. Einige Augenblicke lang hörte man in dem Raum nur das leise Ticken einer Pendeluhr.
    »Eminenz, der Heilige Vater hat mich gebeten, vor dem morgigen Treffen ein Gespräch mit Ihnen zu führen.« Ottolenghi warf einen Blick auf St. Pierres Aktentasche. »Am Telefon erwähnten Sie ein Dokument, ich zitiere, ›von äußerst gravierender Bedeutung für den Glauben‹. Worum geht es?«
    »Darum.«
    St. Pierre zog eine Dokumentenmappe aus schwarzem Plastik aus seiner Tasche. Er nahm einige Papiere heraus und reichte sie dem Kardinal.
    »Was ist das?«, fragte Ottolenghi.
    »Die Fotokopie einer Pergamenthandschrift, ein Brief, den Marsilio Ficino eigenhändig an Cosimo de’ Medici schrieb. Er trägt das Datum vom 27. August 1463.«
    »Marsilio Ficino? Das Corpus Hermeticum ?«
    »Genau. Doch das ist nur der Ausgangspunkt.«
    »Wohin führt er?«
    »Auf eine Reise zurück ins alte Ägypten, in das vierzehnte Jahrhundert vor Christus, die Regierungszeit des Pharaos Echnaton.«
    Ottolenghi riss die Augen auf.
    »An manchen Stellen ist die Tinte bis zur Unleserlichkeit verblasst«, sagte St. Pierre, »doch was der Text bedeutet, wird trotzdem klar.«
    Je weiter Ottolenghi mit der Lektüre vorankam, desto mehr verfinsterte sich sein Gesicht.
    »Alles Unsinn.« Ottolenghi warf die Blätter auf das Tischchen zwischen sich und St. Pierre und blickte ihn mit einer Mischung aus Skepsis, Ärger und Misstrauen an. »Wahnvorstellungen eines Ungläubigen!«
    »Augenblick mal, Eminenz.« Kardinal St. Pierre machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Marsilio Ficino war der Mittelpunkt des geistigen Lebens am Hof der Medici, und sein Denken hat Künstler wie Michelangelo inspiriert. Er war alles andere als ein krankhafter Lügner, und was den Unglauben betrifft, so darf ich Sie daran erinnern, dass er 1473 zum Priester geweiht wurde.«
    »Alles Geschwätz. Der Brief strotzt nur so von verworrenen Bezügen, und die Schlussfolgerungen sind völlig haltlos, ja, überdies widersprechen sie dem Glauben.«
    »Meinen Sie?«
    Ottolenghis Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Wenn noch mehr dahintersteckt, sind Sie verpflichtet, es mir zu sagen. Dieser Brief zieht die Glaubwürdigkeit der Bibel in Zweifel.« Seine Hand fiel auf die Armlehne wie der Hammer eines Richters. »Er stellt eine Bedrohung für den Glauben dar, darum fällt die Angelegenheit in meinen Zuständigkeitsbereich. Was haben Sie noch entdeckt?«
    »Als Kardinal-Archivar bin ich nur Seiner Heiligkeit gegenüber zu Auskünften verpflichtet. Behalten Sie sich diesen Ton für die Theologen vor, die vom Tribunal der Glaubenskongregation verhört werden.«
    »Ist das Ihr letztes Wort?«
    Mit pulsierenden Halsschlagadern nahm St. Pierre die Papiere und die Dokumentenmappe an sich, steckte sie in die Tasche zurück und erhob sich. »Ich werde Seiner Heiligkeit morgen Vormittag sagen, was ich zu sagen habe.«
    Ottolenghi stand auf und ging hinaus, begleitet vom Rascheln des Kardinalsmantels.

    »Eminenz, ich möchte Sie daran erinnern, dass die Begegnung mit dem Heiligen Vater pünktlich um zehn Uhr stattfindet«, mahnte der päpstliche Sekretär, während Kardinal St. Pierre auf ein grellrotes Mountainbike stieg, das er sich vom Kammerdiener des Papstes geliehen hatte.
    Der Kardinal, im grauen, kurzärmeligen Hemd mit Priesterkollar, hob die Hand zu einer beruhigenden Geste und radelte durch den Hof des Vatikanischen Observatoriums davon, gefolgt vom nachdenklichen Blick des Sekretärs.
    In den Gärten des Papstpalastes angekommen, fuhr der Kardinal durch eine von Steineichen beschattete und mit Renaissanceskulpturen geschmückte Allee, gelangte zu den Ruinen der Villa des Domitian und fuhr auf den Ausgang zu.
    Auf dem Gipfel des Hügels hielt er an und blickte zum See hinunter. Soeben ging die Sonne auf. Der päpstliche Palast und die beiden Kuppeln des Observatoriums spiegelten sich im Wasser. Der Wechsel zwischen den Farben der Hügel, dem Grün der Wälder, dem Rot der Dächer und dem Ockergelb der Häuser, bot ein prächtiges Schauspiel. Mit einem tiefen Atemzug verscheuchte der Kardinal die Begegnung mit
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