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Curia

Curia

Titel: Curia
Autoren: Oscar Caplan
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Leben etwas unwiederbringlich verloren war. Was? Dinge, die nicht gesagt und nicht getan worden waren.

    Beißend spürte Théo den Formaldehydgeruch in der Kehle, und die Reflexe des Lampenlichts auf den weiß gekachelten Wänden blendeten ihn. An den Wänden sah er die lange Reihe der Stahltüren zu den Kühlzellen. Sein Magen zog sich zusammen.
    Ein Krankenhausangestellter im grünen Teflonkittel öffnete eine der Türen und ließ eine Stahlliege herausgleiten. Der Körper war mit einem grünen Laken bedeckt, nur die Füße schauten heraus. Am großen Zeh hing ein Identifikationskärtchen. Auf einen Wink des Kommissars hob der Angestellte einen Zipfel des Lakens.
    »Signor St. Pierre, erkennen Sie Ihren Bruder?«, fragte der Kommissar.
    Vankos Gesicht war mit Kratzern und blauen Flecken übersät. Obwohl man ihm den Kiefer mit einer Mullbinde fixiert hatte, war der Mund zu einem grotesken Lächeln geöffnet. Théo wandte den Blick ab. Ihm war, als habe er den Geruch nach salziger Luft in der Nase, und vor seinen Augen zeichnete sich der Strand vor dem Haus in Juan-les-Pins ab, an einem Frühlingstag vor vielen Jahren.

    Am Nachmittag waren er und Vanko am Hafen umhergestreift und hatten sich die Segelschiffe angeguckt, die aufs Meer hinausfuhren.
    Jetzt spazierten sie an der Wasserlinie des Privatstrands entlang und spielten mit Atticus, ihrem Mastiff, indem sie ihm ein Stöckchen ins Wasser warfen. Vanko zog sich das Hemd aus und ließ es in der Luft kreisen, dabei stakste er durch das Wasser und sang Paris Canaille wie Léo Ferré.
    Es war ihm vorgekommen, als würde die Sonne über dem Strand von Juan-les-Pins niemals untergehen. Ihr Licht blendete sie, das Wasser prickelte auf der Haut, und der salzige Geruch des Meeres trieb die Vorstellungskraft dazu, Unmöglichem nachzujagen.

    »Signor St. Pierre …«, sagte der Kommissar.
    »Ja, ja, er ist es.«
    Nach einer endlosen Stille, in der man nur das Brummen der Kühlanlage hörte, gab Théo dem Angestellten einen zustimmenden Wink. Der ließ das Laken sinken, schob den Leichnam wieder in die Zelle und schloss die Tür.
    Vor dem Krankenhaus blieb Théo unter dem Bogengang stehen, sein Blick verlor sich in den Hügeln am Horizont. Er umklammerte das Geländer, bis seine Hand schmerzte.
    »Ich wohne auf dem Land«, sagte der Kommissar, der hinter ihm stand. »Wenn ich wütend bin, gehe ich raus, nehme eine Axt und hacke Holz.«
    »Ich spiele Geige.«

    Die Terrasse des Cafés – einer von blühenden Kletterpflanzen beschatteten Patios am Hang des Hügels von Marino – öffnete sich auf das sonnenbeschienene Tal zu Füßen des Städtchens. Einige Augenblicke lang nippten Théo und der Kommissar schweigend an ihrem Kaffee. Das einzige Geräusch war das Zirpen der Grillen.
    Eine Dame in eng anliegenden, gelben Hosen kam auf ihren Tisch zu. » Pardon me «, sagte sie auf Englisch. »Sie sind der Schauspieler Jeremy Irons, nicht wahr? Würden Sie mir bitte ein Autogramm geben? Per favore .«
    Théo lächelte gequält. Er konnte das nicht mehr ertragen. Entweder er oder Jeremy Irons mussten sich endlich zu einer Gesichtsoperation durchringen. »Ich würde Ihnen gerne eins geben, aber ich bin nicht Jeremy Irons.«
    Die Dame erging sich in Entschuldigungen und entfernte sich.
    »Tatsächlich!«, rief der Kommissar aus. »Vor einiger Zeit habe ich im Fernsehen einen Film gesehen, ich glaube, er hieß Australien , da spielte dieser Schauspieler mit. Wissen Sie, dass Sie ihm aufs Haar gleichen, wenn man ein paar Jahre abzieht?«
    Théo seufzte. »Was haben Sie herausbekommen, Commissario?«
    Dominici tupfte sich den Schnauzbart ab. »Nicht viel.«
    Niemand hatte etwas gesehen. Der Zusammenstoß war sehr heftig gewesen, das Auto musste also plötzlich und mit hoher Geschwindigkeit aufgetaucht sein. Es handelte sich um eine kleine Nebenstraße, eine Einbahnstraße, und um diese Zeit herrschte kein Verkehr; das Auto hatte genug Platz, um Vanko zu überholen, und das machte den Unfall verdächtig.
    Der Kommissar hatte auch mit Ottolenghi und Vankos Fahrer gesprochen, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Nach Aussagen des Kardinals hätte Vanko eine Unterredung mit dem Papst haben sollen, bei der es um die Erweiterungsarbeiten des Vatikanischen Geheimarchivs ging.
    Die Bitte des Kommissars, Vankos Zimmer betreten und seine persönlichen Habseligkeiten durchsuchen zu dürfen, war abgelehnt worden. Der Sekretär des Papstes hatte gesagt, ihrer Meinung nach handele es sich um
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