Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin
Autoren: Der Uebergang
Vom Netzwerk:
sein wollte. Es erinnerte sie an
diese kleinen Plastikstäbe, die man knicken musste, damit die Flüssigkeit darin
anfing zu leuchten. Dies war noch derselbe Mann, aber das Leuchten war nicht
mehr da. Er sah älter aus, dünner. Sie sah, dass er unrasiert war, und sein
Haar war nicht gekämmt; es war fettig und stand wirr vom Kopf ab, und er trug
kein gebügeltes Poloshirt, sondern nur ein gewöhnliches kariertes Arbeitshemd,
wie ihr Vater eins getragen hatte, und es hing aus der Hose und hatte
Schweißflecken unter den Armen. Er sah aus, als habe er die Nacht im Freien
verbracht oder irgendwo im Auto geschlafen. In der Tür suchte er ihren Blick,
und sie folgte ihm nach hinten zu einem Tisch.
    Was machst du hier?
    Ich habe sie verlassen, sagte
er, und als er sie ansah, wie sie vor seinem Tisch stand, roch sie Bierdunst in
seinem Atem, und sie roch Schweiß und schmutzige Kleider. Ich
hab's getan, Jeanette. Ich habe meine Frau verlassen. Ich bin ein freier Mann.
    Du bist den ganzen Weg hierhergefahren, um mir
das zu sagen?
    Ich habe an dich gedacht. Er
räusperte sich. Oft. Ich habe an uns gedacht.
    Wie, an uns? Uns gibt es nicht. Du kannst hier
nicht einfach so aufkreuzen und sagen, du hast an uns gedacht.
    Er richtete sich auf. - Es
ist aber so.
    Hier ist viel Betrieb. Siehst du das nicht? Ich
kann mich nicht einfach so mit dir unterhalten. Du musst etwas bestellen.
    Okay, antwortete er, aber er
schaute nicht zur Speisentafel an der Wand hinüber. Er wandte den Blick nicht
von ihr. Ich nehme einen Cheeseburger. Einen Cheeseburger
und eine Coke.
    Als sie seine Bestellung notierte und die Worte
vor ihren Augen verschwammen, begriff sie, dass sie angefangen hatte zu
weinen. Ihr war, als habe sie einen ganzen Monat nicht geschlafen, ein ganzes
Jahr nicht. Mit allerletzter Willenskraft stemmte sie sich gegen die Last der
Erschöpfung. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie mit ihrem Leben etwas
anfangen wollen: Haareschneiden vielleicht, einen Gewerbeschein beantragen,
einen kleinen Frisörsalon aufmachen, in eine richtige Stadt ziehen, nach
Chicago oder Des Moines, ein Apartment mieten, Freunde haben. Aus irgendeinem
Grund hatte sie immer ein ganz bestimmtes Bild von sich selbst im Kopf gehabt:
Sie saß in einem Restaurant, einem Coffeeshop eigentlich, aber hübsch; es war
Herbst und kalt draußen, und sie saß allein an einem kleinen Tisch am Fenster
und las ein Buch. Vor ihr auf dem Tisch stand ein dampfender Becher Tee. Dann
schaute sie aus dem Fenster auf die Straße der Stadt, in der sie war, und sah
die Leute draußen vorbeihasten, in dicken Mänteln und Mützen, und sie sah auch
ihr eigenes Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte, vor all den Leuten
draußen. Aber als sie jetzt dastand, war es, als gehörten alle diese Gedanken
zu einer ganz anderen Person. Jetzt war da Amy, die halbe Zeit krank - erkältet
oder mit einem verdorbenen Magen, den sie sich in der miesen Tagesstätte geholt
hatte, in die Jeanette sie brachte, wenn sie zur Arbeit musste. Ihr Vater war
gestorben, so plötzlich, als sei er durch eine Falltür verschwunden, und Bill
Reynolds saß hier am Tisch, als wäre er nur mal kurz hinausgegangen, nicht vier
Jahre weggewesen.
    Warum tust du mir das an?
    Er schaute ihr eine ganze Weile in die Augen und
berührte ihren Handrücken. - Lass uns später reden.
Bitte.
    Am Ende zog er bei ihr und Amy ein. Sie hätte
nicht mehr sagen können, ob sie es ihm angeboten hatte oder ob es einfach
irgendwie passiert war. So oder so bereute sie es auf der Stelle. Dieser Bill
Reynolds - wer war er wirklich? Er hatte seine Frau und seine Jungs, Bobby und
Billy in ihren Baseball-Trikots, verlassen, hatte alles in Nebraska zurückgelassen.
Der Pontiac war weg, und mit seinem Job war es auch vorbei. Angesichts der
wirtschaftlichen Lage, erklärte er, kaufe kein Mensch irgendetwas. Er habe
einen Plan, sagte er, aber der einzige Plan, den sie sehen konnte, bestand
offenbar darin, zu Hause rumzusitzen. Er tat nichts, nicht mal das
Frühstücksgeschirr räumte er ab, während Amy den ganzen Tag im Diner arbeitete.
    Er schlug sie zum ersten Mal, als er drei Monate
bei ihr wohnte; er war betrunken, und danach brach er sofort in Tränen aus und
sagte immer wieder, es tue ihm so leid. Er lag auf den Knien und heulte, als
wäre sie diejenige, die ihm etwas getan hätte. Sie müsse verstehen, sagte er, wie schwer
das alles sei, all die Veränderungen in seinem Leben - das sei mehr, als ein
Mann, jeder Mann, ertragen könne.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher