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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo
Autoren: corley
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Handschellen anlegen lassen.

    610

    Sie schnaubte höhnisch.
    »Siehst du, siehst du, ich ergebe mich! Du kannst mich nicht umbringen. Ich bin jetzt dein Gefangener.«
    Er schluchzte jetzt, und ein Rotzfaden tropfte ihm aus der Nase. Es war jämmerlich.
    Nightingales Hass ließ nach, und auf einmal konnte sie wieder klar denken. Entsetzt begriff sie, dass sie um ein Haar einen Menschen getötet hätte, der sie um Gnade anflehte, und durch die Erkenntnis wurde ihr körperlich schlecht.
    Mit ihrem Blutrausch verschwand aber auch ihr All-machtsgefühl. Sie war eine halbnackte Frau, vermutlich schwerer verletzt, als ihr bewusst war, und hielt auf einer einsam gelegenen Farm einen Serienmörder mit einem seiner eigenen Messer in Schach. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, ihn zu provozieren und seine angebotene Kapitulation nicht anzunehmen?
    Nightingale schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Der Mann kniete noch immer mit erhobenen Armen vor ihr. Sie wusste nicht, ob er ihren Gesinnungs-wandel spürte, aber er blickte sie jetzt fragend an, nicht mehr voller Angst. Und ihr war klar, falls er irgendeine Schwäche bei ihr witterte, würde er sofort wieder zum Angriff übergehen.
    Sie setzte eine harte Miene auf und biss sich entschlossen auf die Zähne, aber hinter dieser Maske überlegte sie krampfhaft, was sie jetzt machen sollte. Ein Teil von ihr wollte ihn noch immer töten, weil er sonst auch in Zukunft eine Bedrohung für sie darstellen würde, aber sie wurde nicht mehr von Hass angetrieben, nur noch von tiefstem Abscheu. Die Vorstellung, ihn anzufassen, widerte sie an.
    »Bind deine Fußknöchel zusammen. Los, dalli.« Der Klang ihrer Stimme erschreckte sie. Sie schien einem anderen Men-611

    schen zu gehören, brutal und skrupellos. Er zögerte. »Mach schon, verdammt, sonst schneid dir die Kehle durch.«
    Er ließ sich nach hinten rollen und hob die Knie an, als wollte er ihr gehorchen, aber irgendetwas hatte sich verändert. Nightingale duckte sich leicht, tänzelte angriffsbereit, doch dann merkte sie, dass er sie nicht mehr ansah. Er starrte über ihre Schulter hinweg in den Himmel.
    »Alter Trick«, dachte sie und ignorierte die unausgesprochene Aufforderung, sich umzudrehen.
    »Los, bind deine …« Sie verstummte.
    Sie hörte nämlich etwas. Zuerst dachte sie, es sei ein Auto, das sich den Berg hinaufquälte, aber der Klang und der Rhythmus passten nicht dazu. Smith hatte dagegen schon begriffen. Es war ein Hubschrauber, und ein panischer Ausdruck glitt über sein Gesicht. Seine Augen huschten über den Hof und zum Wald hinüber, als habe er das Gefühl, in der Falle zu sitzen.
    Als sich gerade ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, sprang er sie an. Die Wucht seines Sprungs und sein Gewicht reichten aus, um sie zu Boden zu reißen. Aber er griff sie nicht weiter an. Er war verschwunden, rannte auf die Bäume zu. Nightingale sah ihm erleichtert hinterher, doch die Erleichterung schlug sogleich in Angst um. Unter dem dichten Blätterdach des Waldes war er für den Hubschrauber unsichtbar, und er könnte meilenweit fliehen. Er würde entkommen, und sie würde in ständiger Angst leben, solange er auf freiem Fuß war. Sie weinte vor Zorn. Es war nicht fair.
    »Nein!«, schrie sie und spürte, wie die Last der Entscheidung sie niederdrückte. Sie hob das Messer auf, das ihr am nächsten lag. Die Augen auf die Stelle gerichtet, wo er in den Wald gelaufen war, rannte sie los. Ihre langen Beine verrin-gerten rasch die Distanz zum Waldrand, ihre nackten Füße glucksten in den blutgetränkten Schuhen.

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    Sobald sie zwischen den Bäumen war, blieb sie stehen und lauschte. Sie hörte ihn durchs Unterholz stürmen und folgte dem Geräusch. Farne und Dornengestrüpp griffen nach ihren Beinen, frisches Blut sickerte aus dem Schnitt in ihrer Seite, aber sie spürte keinen Schmerz. Sie hielt das Skalpell in der Hand umklammert wie einen Talisman. Immer wieder stoppte sie und lauschte. Der Abstand zu ihm verringerte sich, das konnte sie hören. Er rannte, versuchte nicht, sich zu verstecken, und sie war schneller als er.
    Sie fand die Schlinge auf dem Boden. Als sie sie aufhob, bemerkte sie, dass das Seil an der Stelle, wo er es in der Hand gehabt hatte, voller Blut war. Sie schlang es sich wie einen Patronengurt quer über die Brust und hetzte weiter.
    Er bahnte sich einen Weg durchs Unterholz, und die Ge-räusche klangen laut durch die Nacht. Dahinter hörte sie schwach das Rauschen des Meeres. Er
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