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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo
Autoren: Elizabeth Corley
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war beängstigend stark gewesen, »und ich musste mir zwei Zähne überkronen lassen.«
    »Das sagen Sie, Sergeant, aber woher sollen die Geschworenen wissen, dass Sie sich die Verletzungen nicht selbst zugezogen haben oder dass sie Ihnen nicht von Ihren Kollegen zugefügt wurden, um Beweise gegen meinen Mandanten zu fingieren?«
    Seine Gefühllosigkeit ließ sie nach Luft schnappen, und entsetzt merkte sie, dass ihr Tränen in die Augen schossen, doch als sie einen Blick zum Tisch der Anklagevertretung riskierte, sah sie verstohlen lächelnde Münder. Verwirrt schaute sie zu den Geschworenen hinüber. Fünf Frauen, sieben Männer; alle blickten schockiert, eine unverhohlen wütend. Stringer hatte sich verrechnet.
    »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie und nahm zittrig einen Schluck Wasser.
    »Geht es Ihnen gut?« Der Richter beugte sich besorgt vor. »Ich bin sicher«, sagte er mit einem vielsagenden Blick zu Stringer, »dass die Befragung sich dem Ende zuneigt.«
    Und tatsächlich. Der Verteidiger stellte noch ein paar Fragen, aber seine Attacken waren nicht mehr ganz so vehement. Nach zehn Minuten verließ Nightingale den Zeugenstand, und der Richter unterbrach die Sitzung für die Mittagspause.
    Auf der Fahrt nach Hause fielen ihr die Lobesworte des Staatsanwalts wieder ein, aber sie bedeuteten ihr nichts. Sie war bedrückt, weil sie ab und zu gezögert oder eine schwache Antwort gegeben hatte, und war der festen Überzeugung, dass sie die Befragung besser hätte bewältigen müssen.
    In der obersten Etage, mit Blick über die Bäume, steckte Nightingale den Schlüssel in das solide Sicherheitsschloss und war endlich zu Hause. In ihren eigenen vier Wänden. Der einzige kleine Segen, den ihr der Tod ihrer Eltern beschert hatte, war finanzielle Unabhängigkeit. Sie hatten ihr keine Reichtümer hinterlassen, aber wegen Geld musste sie sich keine Sorgen mehr machen. Sie hob eine Hand, um eine Fliege zu verscheuchen, und wischte die unerfreuliche Realität beiseite, dass sie aus dem Verlust ihrer Eltern einen Vorteil zog. Der Gedanke machte ihr ein schlechtes Gewissen, und sie bekam Magenschmerzen.
    Ein Lämpchen blinkte an ihrem Anrufbeantworter: drei Nachrichten. Eine von ihrem Bruder, der sich genauso anhörte wie ihr Vater.
    »Komm uns doch am Wochenende besuchen. Ich habe zur Abwechslung mal Sonntag und Montag frei.« Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war er jetzt Assistenzarzt und wollte sich später auf Orthopädie spezialisieren.
    Sie schüttelte den Kopf. Er war jetzt alles, was von ihrer Familie noch übrig war, aber es deprimierte sie immer, wenn sie bei Simon und seiner Frau Naomi war. Sie lebten in einer Welt voller häuslicher Glückseligkeit, und Nightingale kam sich vor wie von einem anderen Stern, wenn sie die beiden besuchte. Außerdem sagten sie hartnäckig Diane zu ihr, der Name, den ihre Mutter für sie ausgesucht hatte, obwohl sie sich schon seit Anfang der höheren Schule nur noch mit ihrem zweiten Vornamen anreden ließ.
    Das Lämpchen für neue Nachrichten blinkte noch immer. Sie riss sich aus den Erinnerungen an Streitereien in ihrer Kindheit und drückte die Taste erneut, um die nächste Nachricht abzuhören. Nur Schweigen und schweres Atmen. Bei der dritten Nachricht genauso. Sie löschte beide und verfluchte den Perversling, der sich ausgerechnet ihre Nummer herausgepickt hatte.

Kapitel zwei
    Der Häftling strich die drei Tage alte Zeitung glatt und faltete scharfe Knicke um den gewünschten Artikel herum, ehe er mit einem Ruck an der Seite riss. Das billige Papier teilte sich fügsam, und er wiederholte die Bewegung, bis er den Text komplett herausgelöst hatte, was ihm einen zufriedenen Seufzer entlockte. Scheren waren nicht erlaubt. Er galt aufgrund seiner langen Gefängnisstrafe und wegen der Ergebnisse eines psychiatrischen Gutachtens als potenzieller Selbstmörder.
    Sein Psychiater hatte ihm, als er auch nur andeutungsweise Interesse an der Presseberichterstattung über seine Taten bekundete, gleich vorgeschlagen, sich ein Album mit Zeitungsausschnitten anzulegen. Manche der lächerlichen Theorien hinsichtlich seines Tatmotivs fand er äußerst amüsant. Er wurde als gefährlich und unberechenbar dargestellt, als ein Mann, von dem man sich tunlichst fernhielt. Das hatte ihm unter seinen Mitgefangenen einen gewissen Ruf eingebracht, obwohl es für einen Vergewaltiger im Knast nicht ungefährlich war. Er wurde zwar gehasst, wie alle Sexualtäter, aber es griff ihn niemand mehr an.
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