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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Autoren: Donna Leon
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mal hin und frage sie. Man kann ja nie wissen.«
    Draußen rief der Ispettore die Wache am Piazzale Roma an und bat, ein Boot zu schicken, das ihn an der Anlegestelle Riva di Biasio abholen sollte. Brunetti wusste, dass er zu Fuß schneller nach Hause kam, also gab er seinem Mitarbeiter die Hand und machte sich auf den Weg.

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    A ls Brunetti aus unruhigem Schlaf erwachte, war seine Familie schon ausgeflogen. Er blieb noch eine halbe Stunde lang zwischen Schlaf und Wachen liegen und dachte an Signora Giustis Bemerkung: »Sie war eine gute Nachbarin«, und das klebrige rote Zeug, das ins weiße Haar dieser guten Nachbarin gesickert war. Sein selektives Gedächtnis verweilte bei Marillos verlegener Zurückhaltung und spielte noch einmal Rizzardis kühle Gründlichkeit ab. Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Würde er so etwas über sich von einer Frau hören wollen, die längere Zeit im selben Haus gelebt hatte? Dass er ein guter Nachbar gewesen sei? War das alles, was über jemanden, den man seit Jahren kannte, zu sagen blieb?
    Schließlich ging er grummelnd in die Küche, wo er einen Zettel von Paola fand. »Hör auf zu grummeln. Kaffee auf dem Herd. Nur anmachen. Frische Brioches auf der Anrichte.« Er sah Nummer zwei und vier und tat Nummer eins und drei. Während der Kaffee aufkochte, ging er ans hintere Fenster und schaute nach Norden hinaus. Die Dolomiten waren deutlich zu sehen, dieselben Berge, denen Signora Altavilla den Rücken zugekehrt hatte und auf die Signora Giusti hinaussah.
    Brunetti mochte der Sohn, Enkel, Urenkel - und mehr - von Venezianern sein, dennoch empfand er die Gegenwart der Berge seit jeher tröstlicher als die des Meeres. Jedes Mal wenn er von dem nahenden Unheil hörte, das die Menschheit [46]  vom Erdboden hinwegfegen würde, etwas über die vielen giftigen und radioaktiven Abfälle las, die von der Mafia vor der Küste Italiens im Wasser versenkt wurden, fand er Trost beim Anblick der majestätischen Größe der Berge. Er hatte keine Ahnung, wie viele Jahre dem Menschen noch blieben, aber dass die Berge alles Kommende überleben würden und es danach immer noch ein Leben auf der Erde geben würde, dessen war er gewiss. Er hatte noch keinem, nicht einmal Paola, von diesen Gedanken oder dem seltsamen Trost erzählt, den sie ihm gewährten. Berge waren für ihn etwas Dauerhaftes, während das unbeständige Meer sich nicht nur aufwühlen ließ, sondern auch den vom Menschen angerichteten Verwüstungen ausgeliefert war.
    Er dachte gerade an den im Pazifik treibenden kontinentgroßen Wust aus Müll und Plastik, als das Brodeln des Kaffees ihn in die harmlosere Realität zurückholte. Er schenkte sich eine Tasse ein, gab Zucker dazu und nahm eine Brioche aus der Tüte. Die Tasse in einer Hand, die Brioche in der anderen, kehrte er zu seinen Betrachtungen über die Berge zurück.
    Dann verlangte das Telefon nach ihm. Er ging ins Wohnzimmer und meldete sich mit vollem Mund.
    »Wo sind Sie, Brunetti?«, schallte Patta aus dem Hörer.
    In jüngeren Jahren, als ihm noch der Schalk im Nacken saß, hätte Brunetti geantwortet, er sei im Wohnzimmer, aber da er Pattas Reden inzwischen richtig zu deuten gelernt hatte, war klar, dass die Frage darauf abzielte, warum er nicht in der Questura sei.
    Er verschlang den letzten Bissen seiner Brioche und sagte: »Ich bitte, die Verspätung zu entschuldigen, Signore, aber [47]  Rizzardis Mitarbeiter hat gesagt, der Doktor wolle mich anrufen.«
    »Haben Sie kein telefonino, Herrgott noch mal?«, fragte sein Vorgesetzter.
    »Doch, natürlich, Signore, aber sein Mitarbeiter hat gesagt, der Doktor werde mich wahrscheinlich ins Krankenhaus bestellen, also warte ich lieber hier zu Hause auf den Anruf. Wenn ich erst in die Questura komme und dann wieder ins Krankenhaus zurückmuss, das wäre -«
    Er merkte, er redete zu viel, aber da unterbrach Patta ihn auch schon: »Lügen Sie mich nicht an, Brunetti.«
    »Signore!«, sagte Brunetti ähnlich entrüstet wie neulich Chiara bei einer Bemerkung von Paola zu ihrem Aufzug.
    »Kommen Sie her. Sofort.«
    »Jawohl, Signore«, sagte Brunetti und legte auf.
    Geduscht, rasiert und gestärkt nach drei Tassen Kaffee und zwei sehr zuckerhaltigen Brioches, verließ Brunetti beflügelt wie selten die Wohnung und trat in einen jener herrlichen Sonnentage hinaus, an denen Herbst und Natur gemeinsam alle Register ziehen, um den Menschen eine Augenweide zu bieten. Er wäre viel lieber zu Fuß gegangen, nahm
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