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Colombian Powder

Colombian Powder

Titel: Colombian Powder
Autoren: Simone A. Siegler
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ist nicht zu denken. Dem Platzmangel in meiner Zelle trotzend stehe ich auf und zähle – wieder einmal – die fünf Schritte von der Pritsche zur Tür und zurück. Alles ist besser, als meinen Gedanken nachzugeben. Nicht hier. Das Risiko ist zu groß, völlig den Verstand zu verlieren und in eine Depression zu fallen, die letztlich den Blick verlässlich auf das Gitter richtet … Wie oft habe ich in den ersten Tagen hier das Fenstergitter betrachtet und überlegt, wie man sich daran erhängen könnte. Niemals darf meine Mutter erfahren, was aus ihrem kleinen Engel geworden ist!
    Irgendwann drehen sich die grauen Mauern um mich herum wie ein Karussell. Ich reiße das Fenster auf und sauge gierig frische Luft in meine Lungen. Es tut gut, die Stirn an die harten Gitterstäbe zu pressen, den Blick in die Ferne zu richten. Wobei der Begriff Ferne hier relativ ist. Der nächste Zellenblock, an dem die Fenster wie gierige Mäuler aussehen, ist fünfzehn Meter entfernt. Allerdings kann ich, wenn ich mich eng an die Wand presse, ein Stück Himmel erhaschen. Weg von den tristen Mauern der Haftanstalt, die mich nicht nur ihrem Aussehen nach an die Vergangenheit erinnern, das ermöglicht mir nur der Traum.

    Entgegen aller Anstrengung schält sich die Silhouette meines Elternhauses aus den Schwaden der Erinnerung. Ein Gutshof, errichtet aus schwerem, rotem Backstein mit Namen Hochweden, eingebettet in die Weiten Ostfrieslands. Es ist jedoch nicht Heimweh, was mein Gemüt schwer werden lässt. Alles, was ich bei dem Namen Hochweden empfand, war Abscheu - heute ist dem nicht mehr so. Heute empfinde ich Abscheu für jenes Gebäude, in dem ich jetzt bin. Dabei dachte ich, der geschichtsträchtige Gutshof würde mein Gefängnis werden. Damals hatte ich keine Ahnung, was ein wirkliches Gefängnis ist.

    * * * * *

    »Christina, du hast Besuch!«
    Mutter kam strahlend aus dem Salon, musterte mich von oben bis unten und änderte schlagartig ihre Miene. Zum Glück hatte ich die schlammverkrusteten Reitstiefel vor der Tür ausgezogen. Der Rest meiner Reitbekleidung sah nicht ganz so desolat aus, allerdings auch nicht ladylike. Den Vormittag über hatte ich auf dem Rücken meiner Stute Iris im Springparcours trainiert. Jetzt war ich nicht nur verdreckt, sondern fror auch erbärmlich. Ein Besucher passte mir beileibe nicht ins Konzept. Mit offenem Mund starrte die Mutter mich an, als ob ich von einem anderen Stern käme. Glücklicherweise blieb ihr keine Zeit, sich über meinen Aufzug zu entrüsten - hinter ihr tauchte ein junger Mann in der Flügeltür auf.
    »Schon gut, Tante. Ich möchte Nina mit meiner Ankunft nicht überfallen.«
    Stirnrunzelnd musterte ich den Besucher. Ich konnte ihn nicht zuordnen, aber etwas in dem schmalen Gesicht kam mir bekannt vor.
    »Kannst du dich nicht erinnern? Der Gustav! Ihr habt euch seit Kindertagen nicht mehr gesehen«, half mir die Mutter auf die Sprünge und schenkte dem Mann ein strahlendes Lächeln. Sie hatte ihre gute Laune überraschend schnell wiedergefunden.
    Natürlich dämmerte es mir bei diesem Namen. Gustav von und zu irgendwas, der Sohn einer vermögenden Schlossbesitzerin aus Norden. Besser war meine Erinnerung an gemeinsame Kindheitserlebnisse mit ihm, als sich Familie und Freunde noch allmonatlich auf Gut Hochweden zusammenfanden. War es nicht Gustav gewesen, der beim Versteckspiel immer den Sucher spielen musste? Der suchte und suchte, während alle anderen ihn vom Speicher aus beobachteten und sich über seine wachsende Verzweiflung bogen vor Lachen? Auch beim Topfschlagen oder Blinde-Kuh-Spielen zog Gustav öfter das Los als andere und sorgte durch seine Tollpatschigkeit für Erheiterung. Wir lachten – er litt. Seit unserer letzten Begegnung waren bestimmt zehn Jahre vergangen. Der schmächtige, blutarme Junge von damals war in die Länge geschossen und zu einem durchaus ansehnlichen Mann gereift.

    »Gustav wird uns eine Weile Gesellschaft leisten«, erklärte mir die Mutter. Die leise Unsicherheit in ihrer Stimme entging mir nicht.
    »Gesellschaft leisten?« Da war ich doch einigermaßen überrascht. Es kam nicht oft vor, dass wir auf Hochweden längeren Besuch hatten.
    Gustav löste sich von der Tür und kam lächelnd auf mich zu. »Ich stecke gerade mitten in meinem Examen und sehne mich nach ländlicher Ruhe.«
    Ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, dass Norden mit seiner Handvoll Einwohner auch nicht gerade das pulsierende Großstadtleben verkörperte.
    »Nicht nur,
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