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Coelho,Paul

Coelho,Paul

Titel: Coelho,Paul
Autoren: Schutzengel
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Wir kennen die ungefähre Höhe eines Baumes. Oder eines
Lichtmastes. Oder eines Hauses. Das hilft uns abzuschätzen, wie weit die Dinge,
die wir sehen, von uns entfernt sind.«
    Hier hatten sie keine
Vergleichsmöglichkeiten. Hier gab es Steine, die sie noch nie zuvor gesehen
hatten, Berge, deren Höhe sie nicht kannten, und die niedrige Vegetation. Paulo
war es erst aufgefallen, als er den Wagen sah, denn von seinem Wagen wusste
er, wie groß er war. Und darum wusste er auch, dass sie schon mehr als sieben
Kilometer gegangen sein mussten.
    »Lass uns etwas ausruhen und dann
umkehren.«
    >Was soll's?<, dachte sie.
Sie betrachtete weiterhin fasziniert den Horizont. Es war eine vollkommen neue
Erfahrung.
    »Diese Geschichte mit dem
Horizont, Paulo...«
    Er wartete darauf, dass sie
weiterredete. Er wusste, dass sie Angst hatte, etwas Dummes zu sagen,
irgendeine esoterische Bedeutung erfinden würde, wie das viele Menschen taten,
die mit der >Tradition< nicht vertraut waren.
    »Mir ist so ... ich kann's nicht
erklären ... als wäre meine Seele gewachsen.«
    Ja, dachte Paulo. Sie war auf dem
richtigen Weg.
    »Wenn ich früher in die Ferne
geschaut habe, war, was ich sah, wirklich weit weg, verstehst du? Es schien
nicht zu meiner Welt zu gehören. Denn ich schaute sonst immer in die Nähe, auf
die Dinge, die mich umgaben.
    Bis ich vor zwei Tagen begonnen
habe, zum Horizont zu schauen. Und begriffen habe, dass meine Welt neben Tischen,
Stühlen, Gegenständen auch noch Berge, Wolken, Himmel enthält. Und meine Seele
- meine Seele sieht und berührt all dies.«
    >Verdammt! Das hat sie wirklich
gut beschrieben<, dachte Paulo.
    »Meine Seele scheint gewachsen zu
sein«, wiederholte Chris.
    Paulo öffnete die Tasche, zog ein
Päckchen Zigaretten hervor und zündete eine an.
    »Jeder kann es sehen. Aber wir
schauen nur in die Nähe, nach unten und nach innen. So nimmt unsere Kraft ab,
und, um deine Worte zu benutzen, >unsere Seele schrumpft<. Denn sie
umfasst nichts außer uns selber. Sie umfasst keine Meere, Berge, anderen
Menschen, nicht einmal die Wände der Häuser, in denen wir wohnen.«
    Paulo gefiel der Satz, »meine
Seele ist gewachsen«. Hätte er mit einem Angehörigen der >Tradition<
gesprochen, hätte er sich mit Sicherheit komplizierte Erklärungen anhören
müssen im Stil von »mein Bewusstsein hat sich erweitert« oder Ähnliches. Aber
seine Frau hatte es sehr viel treffender gesagt.
    Die Zigarette war aufgeraucht. Es
war unsinnig, bis zum See zu gehen, die Temperatur würde bald fünfzig Grad im
Schatten erreichen. Der Wagen war weit weg, aber dennoch gut sichtbar, und sie
konnten ihn in anderthalb Stunden erreichen.
    Sie machten sich auf den Rückweg.
Sie waren von der Wüste umgeben, von dem unendlichen Horizont, und das Gefühl
von Freiheit wuchs in ihren Seelen.
    »Lass uns unsere Kleidung
ausziehen!«, schlug er vor.
    »Paulo. Jemand könnte uns sehen«,
sagte Chris automatisch.
    Paulo lachte. Sie konnten
meilenweit in die Runde sehen. Am Vortag waren auf ihrem Morgen- wie auf ihrem
Abendspaziergang jeweils nur drei Wagen vorbeigekommen, und sie hatten sie
schon lange gehört, bevor sie neben ihnen aufgetaucht waren. Die Wüste war
Sonne, Wind und Stille.
    »Nur unsere Engel sehen uns«,
antwortete er. »Und die haben uns schon oft nackt gesehen.«
    Er zog seine Bermudas und das
T-Shirt aus, legte den Gürtel mit der Wasserflasche ab und steckte alles in die
Tasche, die er mitgebracht hatte.
    Chris musste an sich halten, um
nicht loszulachen. Sie zog sich auch aus, und kurz darauf gingen zwei Menschen
in Turnschuhen, nur mit Hut und Sonnenbrille durch die Wüste - einer trug
zusätzlich eine schwere Tasche. Bestimmt ein komischer Anblick für jemanden,
der sie jetzt hätte sehen können.
    Sie gingen eine halbe Stunde. Der
Wagen war ein Punkt am Horizont, aber anders als der See wurde er immer größer,
je mehr sie sich ihm näherten. Bald würden sie ihn erreichen.
    Plötzlich fühlte sich Chris
unendlich matt. »Lass uns einen Augenblick ausruhen!«, bat sie. Paulo blieb
sofort stehen.
    »Ich kann die Tasche nicht mehr
tragen«, klagte er. »Ich bin müde.«
    Wieso bloß konnte er die Tasche
nicht mehr tragen? Mit den beiden Wasserflaschen konnte sie doch nicht mehr als
drei Kilo wiegen.
    »Du musst aber. Unser Wasser ist
da drin.«
    Ja, Chris hatte recht.
    »Dann lass uns schnell gehen!«,
sagte er verstimmt.
    >Vor wenigen Minuten war alles
noch so romantisch<, dachte sie. Und jetzt war er schlecht
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