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Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg
Autoren: Béla Bolten
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immer das Attest mit dem Briefkopf der Charité und der schwungvollen, wenn auch gänzlich unleserlichen Unterschrift von Professor Weberknecht mit mir. Doch diesmal lief alles aus dem Ruder. Nicht nur, dass diese Dirne, die sich Inge nannte, was zweifelsohne und wie Sie mir gerade bestätigt haben, nicht ihr richtiger Name war, sich über meinen beschnittenen Schwanz wunderte, nein: Sie erkannte mich offenkundig auch. Zumindest murmelte sie etwas wie , Dich kenn ich doch irgendwoher’ . Das Verrückte war: Mir ging es genauso. Letztlich war das aber auch egal. Ich witterte Gefahr. Was würde passieren, wenn diese Frau mich anzeigte? Was, wenn man genauer nachzuforschen begann? Wenn man den Rebbe fragte. Gab es noch Aufzeichnungen über die Beschneidung? Sicher gab es sie. Da war doch extra ein Wimpel gestickt worden, den ich in die Synagoge getragen hatte. Aber die Synagoge existierte doch nicht mehr! Sie war abgebrannt in jener Nacht. All das schoss mir durch den Kopf, und dann lachte diese Inge noch einmal schallend auf ‒ und in diesem Moment erkannte ich sie auch.«
    Albert machte eine Pause, und Daut war fast dankbar für diesen Augenblick der Stille. Nach ein paar Sekunden fasste sich Just:
    »Ich erledigte, was in einem Bordell zu erledigen ist. Draußen versteckte ich mich hinter einer Litfaßsäule auf dem Ku’damm und wartete, bis sie kam. Dann ging alles blitzschnell.«
    Was war das? Daut bedeutete Albert zu schweigen. Er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Langsam drehte er sich einmal um die eigene Achse. Nichts, nur schwarze Nacht und unheimliche Stille. Albert hatte sich leicht gebückt in den Hauseingang zurückgezogen. Flüsternd forderte Daut ihn auf weiterzureden.
    »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Ich umfasste die Hure von hinten, hielt ihr den Mund zu, zog sie in einen Hinterhof und schoss ihr in den Hinterkopf.«
    Daut glaubte zu hören, wie Albert schluckte.
    »Wissen Sie, was das Schlimmste war? Das Blut, das gegen mein Gesicht klatschte. Es war so warm und klebrig.«
    Wie gut kannte Daut dieses Gefühl. Bilder drängten sich ihm auf, er verscheuchte sie mit einem Augenklimpern. Er hatte noch eine Frage, die alles entscheidende:
    »Warum sind Sie sich sicher, dass die Frau Sie verraten hätte?«
    »Weil sie mich erkannt hat - und ich sie. Sie war schon als junges Mädchen ein Flittchen. Hat alle Jungs geneckt. Sah ja auch gut aus, die Kleine. Nur bei mir, da blieb sie stur. Mit Judenbengels finge sie nichts an, meinte sie. Aus Prinzip. Irgendwie hatte sie rausgefunden, dass meine Mutter Jüdin war. Das war 1931, und es war kein Problem, sieht man davon ab, dass ich stocksauer und beleidigt war, weil sie mich als Einzigen nicht ranließ. Als ich sie jetzt erkannte, wusste ich sofort, dass ich einen Fehler begangen hatte. Als sie auch noch zu kreischen anfing, als sie meine Beschneidung sah ...«
    »Schon gut. Sie meinen also, sie hätte Sie verraten?«
    »Ich bin sicher, das hätte sie getan. Sie war schon vor 1933 eine Judenhasserin, warum sollte sie es heute nicht mehr sein?«
    »Menschen können sich ändern.«
    »Diese Frau nicht!«
    Daut griff in die Tasche und fühlte den Umschlag. Er knisterte. Er hatte es in der Hand. Er konnte diesem Mann das Leben retten und damit selbst zum Täter werden. Denn was sonst war ein Polizist, der sich außerhalb des Gesetzes stellte? Es war nicht seine Aufgabe zu entscheiden, ob Albert Just des Mordes schuldig war oder aus Notwehr gehandelt hatte. Dieses Urteil war Sache eines Gerichts. Albert Just hatte getötet, das stand zweifelsfrei fest. Die Rolle der Polizei war es, ihn festzunehmen und der Rechtsprechung zu übergeben. Der Rechtsprechung? Welches Recht galt in Deutschland? Welche Chance hatte Just? Gab es in diesem Land noch irgendein Gericht, das ihn nicht an den Galgen brachte? Nein, solche Richter würden sich nicht mehr finden. Aber gab das ihm, dem Polizisten Axel Daut, das Recht, einen Menschen laufen zu lassen, der getötet hatte? War es seine Aufgabe, hier und jetzt, in einem zugigen Hauseingang am Savignyplatz, ein Urteil darüber zu fällen, ob Just aus Notwehr gehandelt hatte? Sollte er sich einfach auf seine Frau verlassen, die sich längst entschieden hatte? Als führte Luise seine Hand, griff er in die Innentasche des Mantels. Auch er hatte sich entschieden. Dieser Mann war kein Mörder. Er würde ihn laufen lassen.
    Er wollte gerade den Umschlag herausziehen, als drei Männer aus einem Hauseingang
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