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Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg
Autoren: Béla Bolten
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sich die Ohren zuhielt. Er zog sie Richtung Kurfürstendamm.
    »Komm, wir gehen nach Hause.«
    Danach schwiegen sie den langen Heimweg.

    Heute war Daut klar, dass damals alles angefangen hatte. Nie wieder gingen er und Luise so unbeschwert miteinander um wie zuvor. Die Leichtigkeit wich einer bleiernen Schwere. Nicht aus Mitleid mit den Juden. Sie kannten kaum Juden. Die Einzigen, mit denen Daut bisher zu tun gehabt hatte, waren der Metzger Meyer, bei dem sie daheim ihr Fleisch gekauft hatten, und der Viehhändler Levi gewesen, von dessen Ehrlichkeit sein Vater immer mit einer gewissen Hochachtung gesprochen hatte.
    »Weißt du, mein Junge«, hatte er oft gesagt, »der Levi ist schon in Ordnung. Der ist gar nicht so ein Jude!«
    Nein, die Juden kümmerten sie kaum. Es ging um die anderen Deutschen, in deren Gesichtern sie in jener Nacht nichts als Hass gesehen hatten. Abgrundtiefen Hass. Sie hatten ein einziges Mal darüber gesprochen. Sonntags nach dem Kirchgang hatte Luise gefragt, warum der Pfarrer nichts zu den Vorkommnissen gesagt hatte. Warum schwieg er? Warum erklärte er nichts?
    »Hass ist eine Sünde, oder?«
    »Ich weiß nicht, warum er schweigt«, hatte Daut geantwortet.
    »Vielleicht kann er es nicht erklären. Es gibt Gerüchte, nach denen der Führer nichts von alledem wusste. Die Aktion wurde vom Propagandaministerium geplant und gesteuert.«
    »Und warum jagt Hitler diesen verdammten Hinkefuß nicht aus dem Amt?«
    Daut hatte Luise noch nie so aufgebracht gesehen.
    »Lass uns nicht mehr darüber reden.«
    Und so schwiegen sie - bis zum heutigen Tag. Sie vermieden es so gut es ging, über Politik zu sprechen. Das war nicht leicht, denn vor allem Walter bestürmte sie mit Fragen, die er von den HJ-Diensten mitbrachte. Man spürte seine Begeisterung für die große, neue Zeit, in der er aufwuchs. Eine Begeisterung, die seine Eltern verloren hatten, als sie in jener Novembernacht die Feuerwehrleute von der brennenden Synagoge abrücken sahen.

    Luise riss ihn aus seinen Gedanken.
    »Und? Kümmerst du dich um die Fahrkarten für die Kinder?«
    Daut nickte stumm.

Vierzig

    Die Stimmung war bemerkenswert. Daut spürte ein Vibrieren in den Büros am Werderschen Markt, das er in all den Jahren noch nicht erlebt hatte. Alle Polizisten der Stadt schienen auf einmal mit den Füßen zu scharren. Weg, raus aus diesem Gebäude. Nach Hause zu Frau und Kindern, die ängstlich in ihren Wohnungen saßen. Würden die Engländer heute wiederkommen? Würden sie erneut über die Stadt dröhnen und wütend Tod auf die Erde schleudern? Jeder spitzte die Ohren, um schon den ersten klagenden Sirenenton zu hören. Es konnte auch sein, dass die Tommies jetzt eine ganze Zeit Ruhe gaben. Sie hatten gezeigt, dass sie Berlin treffen konnten, wenn sie es wollten. Es war eine Demonstration. Der gestrige Tag hatte das Leben verändert. Was mussten die Menschen im Westen Deutschlands leiden, deren Städte mit vielfacher Gewalt zerbombt wurden. Es selbst erlebt zu haben, schnürte einem vor Angst die Kehle zu. Vor allem nahm der Luftangriff den Polizisten ihren Triumph, die Stadt endlich sicherer gemacht zu haben. Gestern war ihnen, mitten im Inferno, der S-Bahn-Mörder ins Netz gegangen. Dabei hatte Daut mit seiner Skepsis recht gehabt. Es war nicht der Mann, der den Schuhabdruck neben der Leiche hinterlassen hatte. Das war nur ein harmloser Spanner. Dafür hatte sich am Abend plötzlich ein Zeuge gemeldet, der den Täter in der Kolonie gesehen hatte. Warum er so lange geschwiegen hatte? Niemand kannte die Antwort, es spielte auch keine Rolle. Auf jeden Fall hatte er den Mörder gesehen. Sie nahmen ihn unmittelbar nach der Entwarnung fest. Der Verdächtige leugnete. Er beschimpfte die Polizisten. Wie konnten sie ihn in so einer Nacht festhalten? Er müsste sich um sein Haus kümmern, um seine Familie. Die Ermittler ließen sich nicht beirren. Sie spürten, dass sie kurz vor dem Ziel waren, setzten ihn unter Druck, zeigten ihm Tatortfotos. Nicht die harmlosen, sondern die grausamsten, deutlichsten. Als sähe er erst jetzt, was er angerichtet hatte, brach der Mann zusammen und gestand alle Morde.
    Was für ein Hohn. Während junge Männer aus Sheffield oder Birmingham über halb Europa flogen und Brand und Vernichtung brachten als Vergeltung für zerstörte Häuser und getötete Menschen in ihrem Land, machte Berlins Polizei die Straßen der Hauptstadt auf ihre Art und Weise sicherer. Alle Werte verschoben sich, was blieb, waren Fragen.
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