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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky
Autoren: Chris Greenhalgh
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hat Coco in den Kneipen von Moulins und Vichy, wo sie früher gesungen und getanzt hat, viel Schlimmeres gesehen. Aber das war einfache Unterhaltung für Soldaten. Hier hingegen bricht die steife Gesetztheit der höheren Schichten auf - und zwar auf spektakuläre Weise.
    Charles beugt sich so dicht zu ihr herüber, dass sein Schnurrbart ihre Wange streift. Ihr fällt auf, dass er zu viel Rasierwasser benutzt. Er flüstert etwas, aber sie versteht ihn kaum, da die Musik und der anhaltende Tumult alles übertönen. Sie spürt, wie seine Hand nach ihrer greift. Ohne ihn anzusehen, befreit sie ihre Finger geschickt aus seinem Griff.
    Auf den Stehplätzen erzeugen die weniger begüterten Zuschauer ihren eigenen Lärm. Sie intonieren Sprechchöre,
klatschen und brüllen Obszönitäten. Und immer noch wird auf der Bühne unbeirrt weitergetanzt. Zu ihrem Erstaunen kommt es bald zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Ein paar Dutzend Menschen fangen sogar an, sich auszuziehen. Coco ergötzt sich an dieser Anarchie. Die Saalbeleuchtung, die bislang gelegentlich aufgeflackert ist, leuchtet auf, einige Zuschauer werden verhaftet.
    Abgelenkt durch die Trillerpfeifen der Polizisten und verwirrt von der plötzlichen Helligkeit, dreht sich der Dirigent - ein fülliger Mann mit Walrossschnurrbart - kurz zu den turbulenten Szenen in seinem Rücken um. Nachdem er sich vergewissert hat, dass zumindest niemand Anstalten macht, die Bühne oder den Orchestergraben zu stürmen, lässt er weiterspielen, auch wenn ihm nicht entgeht, dass einige Tänzer in den Kulissen verzweifelt den Takt mitklatschen.
    Das Licht im Zuschauerraum wird erneut gedämpft. Ohne Vorwarnung spürt Coco Charles’ Hand auf ihrem Knie. Sie sieht zu ihm hinüber. Er starrt sie an. Früher wäre sie vielleicht darauf eingegangen, aber nicht jetzt, nicht hier. Sie schlägt die Beine wieder übereinander, sodass seine Hand von ihrem Kleid abgleitet. Trotzdem weckt seine Berührung in ihr ein Prickeln, einen hauchzarten Kitzel. Auf der Bühne tanzt die Auserwählte ihren Opfertanz. Sie birgt das Gesicht in den Händen, und bald wird ihr ganzer Körper von krampfhaften Zuckungen geschüttelt. Sie wirft sich im Rhythmus hin und her, bis sie in einer zitternden Ekstase schließlich zusammenbricht.
    Während die letzten Töne verklingen und die empörten Proteste und das Gelächter ihren Höhepunkt erreichen, sieht Coco, wie vorne ein adretter Mann mit schütter werdendem Haar aufsteht, der in seinem Frack sehr schmuck aussieht. Er ist klein, ein Meter fünfundfünfzig vielleicht, und geht vor
aller Augen mit großen Schritten den Gang hinauf. Sein Gesicht leuchtet weiß im schummrigen Licht, auf seinem Kopf glänzt ein kahler Fleck. Mit hängenden Schultern und leichten O-Beinen marschiert er unbeirrt dem Ausgang entgegen. Reihe um Reihe drehen sich Augenpaare um und folgen ihm, als er heroisch aus dem Saal rauscht. Wütend schlägt er die Tür hinter sich zu.
    »Wer ist das?«, fragt Coco, an Caryathis gewandt.
    »Strawinsky.«
    »Der mit den Nacktfotos?«
    »Genau.«
    »Ha!«
    »Das traut man ihm gar nicht zu, was?«
    »Und ist er verheiratet, dieser Strawinsky?«
    »Aber ja doch.« Caryathis beugt sich weiter zu Coco hinüber und verleiht ihrer Stimme einen schockierten Klang. »Mit seiner Cousine!«
    »Ich dachte, das wäre nicht erlaubt.«
    »Ist es auch nicht«, flüstert Caryathis, setzt sich zurück und verbirgt das Gesicht hinter ihrem Fächer.
    Die beiden Frauen sehen sich an und brechen in hämisches Kichern aus.
    Würdevoll verbeugen sich die Hauptakteure, und die Musiker ziehen sich feierlich zurück. Damit hat die Farce für Orchester und Tänzer ein Ende. Unter anhaltendem Stimmengewirr schwärmt das Publikum aus dem Saal und ergießt sich auf die Straßen, hinaus in die Mainacht.
    Coco taucht aus dem Gewühl auf. Sie schwitzt und genießt die kühle Abendluft. Doch innerlich ist sie noch wie berauscht von dieser Wucht, die nicht nur sie selbst, sondern den gesamten Saal mitgerissen hat. Ein Funke davon lässt ihre Augen immer noch leuchten.

    »Na, was sagst du?«, fragt Caryathis.
    »Es war einfach überwältigend.«
    »Nicht das Ballett. Dullin!«
    »Oh, Charles! Den hatte ich fast vergessen.« Sie lässt die Mundwinkel gleichgültig nach unten sinken.
    Eigentlich mochte sie ihn ganz gern, bis er anfing, ihr Knie zu befummeln. Er ist ein charmanter Begleiter und sieht gut aus. Aber er ist zu direkt, das gefällt ihr nicht. Außerdem ist er Schauspieler.
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