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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky
Autoren: Chris Greenhalgh
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ihn nach all der Zeit noch vermisste. Sie hatte ihre Gefährten einen nach dem anderen sterben sehen, bis sie alt und allein zurückgeblieben war. Aber er lebte noch. Wie seltsam, dass sie beide überlebt
hatten, während fast alle anderen fort waren. Voller Zärtlichkeit erinnerte sie sich an jenen Sommer, den sie zusammen in ihrer Villa Bel Respiro verbracht hatten. Fünfzig Jahre war das jetzt her.
    Es überraschte sie, dass sie den Verlust plötzlich so stark empfand. Ein Gefühl der Leere überkam sie. Für einen Augenblick erschien ihr alles um sie herum so hohl, dass sie glaubte, die Welt würde dumpf hallen, wenn sie daran klopfte.
    Der Fahrer stand geduldig neben ihr und wartete darauf, was ihr als Nächstes in den Sinn kommen würde. »Mademoiselle?«
    »Was?«, fragte sie abwesend.
    In die Gegenwart zurückgerufen, sah sie die Bäume, ihre dürren Äste, und hörte die Stille nach dem Verstummen der Glocken. Sie verzog das Gesicht, als ihr der Verwesungsgeruch in die Nase stieg. »Mir ist kalt«, sagte sie mit plötzlichem Erschauern. Ihre Finger in den Handschuhen waren taub. Sie zog den Mantel enger und gab dem Fahrer mit einer schnellen Geste zu verstehen, dass sie zum Wagen zurückwollte.
    Während sie mit hoher Geschwindigkeit losfuhren, bemühte sie sich, ihr schaukelndes Bild im Spiegel der Puderdose zu fixieren. »Fahren Sie doch langsamer!«, schimpfte sie. »Was soll die Eile?« Wieder dieses Summen in ihrem Kopf wie eine Wespe in einem Glas.
    An einem Tag, der jeglicher Farbe beraubt zu sein schien, sehnte sie sich umso drängender nach ihr. Selbst die sonst so grellen Werbeplakate wirkten, als hätte man den üblichen Hochglanz ausgebleicht. Zittrig zog sie mit dem Lippenstift die schmale Linie ihres Mundes nach. Leuchtend rot geschminkt, bildeten die Lippen einen kleinen farbigen
Fleck. Doch als sie die Handschuhe abstreifte, fiel ihr Blick auf ihre mageren, mit unübersehbaren Knoten bedeckten Finger. Angewidert betrachtete sie sie, als seien es Klauen, als seien die Altersflecken darauf eine Art Lepra.
    Coco hasste es, alt zu sein. Sie hasste die Unausweichlichkeit dieses Zustands, seine Erbarmungslosigkeit - wie das Sichverfärben der Blätter oder das Heraufziehen der Kälte. Ihr Leben lang war sie mühelos feminin gewesen, doch in diesem Moment fühlte sie sich kaum noch wie eine Frau, sondern nur wie eins dieser Bündel aus Haut und Knochen, die in naher Zukunft zu Staub zerfallen würden. Alles war so schnell gegangen. Von ihrem Leben blieb nur ein nebelhafter Eindruck, es war vorbeigejagt wie die Stadt, die jetzt zu beiden Seiten des Wagens dahinströmte.
    Zügig fuhren sie zurück zum Ritz, wo Coco eine eigene Suite bewohnte. Der Fahrer begleitete sie durch die breite Drehtür.
    »Ab hier schaffe ich es allein«, sagte sie und entließ ihn. »Ich bin ja kein Krüppel.«
    Mit einem Blick, in dem Nachsicht und Respekt um den Vorrang stritten, tippte sich der junge Mann an die Mütze und ging zurück nach draußen zum Wagen. Coco spürte den Temperaturunterschied, als die warme Luft auf ihr Gesicht traf. Sie ging weiter durch das Foyer, wo ein Staubsauger in riesigen Bögen über den Boden kroch. Sie achtete darauf, nicht mit den Füßen im Kabel hängen zu bleiben.
    »Guten Morgen, Mademoiselle Chanel«, rief der Mann an der Rezeption über den Lärm hinweg. Misstrauisch und ohne sich umzusehen, antwortete sie mit einem kurzen Wink. Sie wusste, dass das Kabel Teil einer Verschwörung war, um sie stolpern zu lassen - genau wie das rutschige Bohnerwachs und die Teppiche, die sie in ihrem Zimmer immer wieder anders
hinlegten. Alle hier machten Jagd auf sie, davon war sie überzeugt. Bei dem Gedanken, dass sie ihnen wieder einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, lächelte sie. Ein weiterer Versuch, sie umzubringen, war gescheitert.
    Auf dem Weg zum Aufzug schlug ihr der Gestank aus dem Grillrestaurant entgegen. Diesmal Spargel. Und wenn es nicht gerade Spargel war, dann war es Estragon oder Knoblauch. Es stank immer nach irgendetwas. Sie gab dem Oberkellner die Schuld daran. Auch er machte das mit Absicht, da war sie sich sicher. Sie hatte ihm schon mehrmals gesagt, wie schrecklich es sei, anderer Leute Essen riechen zu müssen. Aber es änderte sich nichts. Das war seine Art, ihr zuzusetzen, seine Strategie, sie zum Ausziehen zu zwingen.
    Wie ein gieriger Mund glitten die Aufzugtüren zur Seite und schlossen sich schmatzend wieder hinter ihr.
    In der Zwischenzeit war Cocos
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