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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky
Autoren: Chris Greenhalgh
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ab.
    Sie hat den ganzen Nachmittag hart gearbeitet. Ihr Magen fühlt sich leer an. Sie hat schon seit Stunden nichts mehr gegessen, ansonsten würde sie sich in diesem Kleid nicht wohlfühlen. Und sie ist gespannt darauf, ihren Begleiter für heute Abend kennenzulernen. Eine Freundin hat alles arrangiert.
    Die Kombination aus ihrer Nervosität und dem Schwanken des Wagens macht sie schwindlig. Das Gefühl der Schwerelosigkeit dehnt sich auf ihre Glieder aus. So seltsam es klingt, aber während der Wagen sanft bald nach links, bald nach rechts schaukelt, hat sie das Gefühl, von unsichtbaren Kraftlinien auf einen bestimmten Punkt gezogen zu werden. Einen Moment sieht sie sich selbst von oben. Sie hat das Gefühl zu schweben.
    Nachdem sich der Wagen einen Weg durch das Gewühl in der Avenue Montaigne gebahnt hat, hält er schließlich an. An einer Litfaßsäule klebt ein Plakat mit der Ankündigung von Strawinskys Sacre du Printemps . Das Theater hat seine Türen geöffnet, überall sieht man Blumenverkäufer, Hunderte Menschen laufen durcheinander.
    Coco gleitet hinaus in die summende Dunkelheit. Die Luft
scheint wärmer hier, als sei sie aufgeladen. Die Atmosphäre hat etwas Vitales, das sie anzieht. Die Blüten der Magnolien und Rosskastanien leuchten beinahe noch heller als die Lampen.
    Sie streicht ihr Kleid glatt und verschiebt den Hut in einen noch kesseren Winkel. Etwas an der Energie und dem Gedränge der Menschen hier verrät ihr, dass es ein guter Abend werden wird. Sie spürt die Blicke der Männer auf ihrem Körper. Ihre Füße scheinen kaum den Boden zu berühren.
    Sie fühlt sich beinahe wie eine Braut, als sie auf das hell erleuchtete Theater zuschwebt.
     
    Igor sitzt in seiner Garderobe und schneidet sich die Zehennägel.
    Harte, kleine Monde in der Farbe alter Klaviertasten liegen vor ihm auf dem Teppich verstreut. Schnipp. Er beugt sich weit vor und untersucht seinen großen Zeh. Er hat zu tief geschnitten und einen zarten Streifen Haut freigelegt. Jetzt zieht sich ein bloßliegender rosafarbener Halbmond um den Nagel.
    »Verdammt!«
    Schlimmer noch, seine neuen Schuhe drücken, und er verzieht beim Aufstehen vor Schmerz das Gesicht. Als er sein Hemd anzieht, verfängt es sich an seinem Kopf. Die Knöpfe sind zu hoch geschlossen. Für den Bruchteil einer Sekunde durchzuckt ihn Panik, und er befürchtet zu ersticken. Vor seinen Augen wird alles weiß. Er hasst es, wenn das passiert. Es erinnert ihn an damals, als er als Kind unter das Eis geriet. Kopflos kämpft er sich mit den Armen in die Ärmel. Dann greift er nach oben, öffnet einen Knopf und taucht, nach Atem ringend, wieder auf.
    Als er in den Spiegel schaut, ist er wie immer halb erschrocken von dieser Erweiterung seiner selbst, von diesem
Zwilling mit verkniffenen Zügen, bei dem Rechts und Links merkwürdig vertauscht sind. Versuchsweise hebt er eine Hand ans Gesicht. Die Bewegung stimmt mit einer Empfindung in seiner Wange überein. Er ist erleichtert, doch als er hustet, scheint ihm, als käme das Geräusch von irgendwo außerhalb seiner selbst.
    Nervös geht er auf und ab. Seine Finger spielen komplexe Phrasen an seinen Hosenbeinen. Er macht sich Sorgen, dass die Flöten- und ersten Geigenstimmen nicht ausgewogen sind. Er fürchtet, dass die Partitur zu schwierig ist und die Tänzer nicht ausreichend vorbereitet sind. Die Choreografie ist zu kompliziert, denkt er. Sie passt nicht zum Tempo. Das hat er Nijinsky immer wieder gesagt, aber er hört ja nicht zu. Er ist ganz offenbar unfähig, richtig zu zählen, und hat sogar Mühe, im Takt zu klatschen. Und Diaghilew lässt ihn einfach gewähren; natürlich, sein Liebhaber kann doch nichts falsch machen.
    Igor plagen düstere Vorahnungen von vernichtenden Kritiken und demütigenden Verrissen. Sein Mund fühlt sich rau an, seine Kehle ist trocken. Er merkt, dass er etwas zu trinken braucht, und greift nach seinem Glas. Als er es an die Lippen hebt, spiegelt sich in seiner Brille zitternd der Wein.
    Unterdessen dringen gedämpfte Geräusche herein. Die Musiker stimmen ihre Instrumente, spielen Tonleitern und kurze Läufe, wiederholen komplexe Passagen. Jetzt, da sie noch nicht aufgeführt ist, scheint die Musik noch nicht aus ihm gewichen zu sein. Ihre abgehackten Rhythmen zucken in ihm, zerren unsichtbar an seinen Armen und Beinen. Ein Flattern in seinem Magen reagiert auf die sich einspielenden Holzbläser. Er hört die schrittweise abfallenden Mollakkorde gegen eine aufsteigende Folge von
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