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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky
Autoren: Chris Greenhalgh
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Septimen im Bass und verspürt wieder die gleiche Übelkeit. Er sieht die Flecken auf seinen Händen. Vor Angst muss er sich fast übergeben.

    Er stellt sich vor, wie die Mitglieder des Orchesters auf die Bühne drängen, sich ballen wie Knoten aus Viertelnoten. Er versucht, nicht an das Publikum zu denken. Selbst ein ruheloser Zuschauer, verunsichert es ihn, sich vorzustellen, wie Hunderte Menschen in den Saal strömen.
    Im Grunde ist er sich nicht sicher, ob sie bereit sind für das, was sie erwartet. Beinahe hat er Mitleid mit ihnen, wie sie dort sitzen. Sie ahnen nicht, was gleich über sie hereinbrechen wird. Wer weiß, wie sie reagieren werden?
    Seine Gedanken schweifen zu seiner Frau Jekaterina, seiner idealen Zuhörerin. Fast wünscht er, sie wäre hier. Sie ist schwanger mit ihrem vierten Kind und fühlt sich nicht wohl. Instinktiv tastet er nach dem kleinen edelsteinbesetzten Kreuz, das sie ihm als Glücksbringer für den heutigen Abend gegeben hat. Es steckt in der linken Brusttasche seines Jacketts: über dem Herzen. Als er die Form durch den dicken Stoff hindurch spürt, lächelt er, wieder etwas aufgemuntert. Er freut sich auf das Kind. Und ja, soll es doch ein zweites Mädchen werden, wie Jekaterina es sich wünscht. Zwei von jeder Sorte wären gut, denkt er, die Symmetrie ist reizvoll. Für sie wünscht er sich, dass der Abend ein Triumph wird. Er nimmt das Kreuz aus der Tasche und küsst es.
    In ein paar Stunden ist alles vorbei, ruft er sich in Erinnerung. Aber Erfolg oder Misserfolg der heutigen Aufführung könnte über seine gesamte Zukunft entscheiden. Womöglich hängt seine Karriere als Komponist davon ab. In den letzten Jahren hat er ein paar gute Sachen geschrieben; er hat Aufmerksamkeit erregt. Man sagt, er sei vielversprechend, er habe Potenzial. Und er weiß, dass es jetzt, mit einunddreißig, Zeit für ihn wird, dieses Potenzial auch umzusetzen. Er braucht einen großen Erfolg, um seinen Ruhm zu festigen, sich zu etablieren, endlich den Durchbruch zu schaffen.
Wenn der heutige Abend gut verläuft, könnte er ein Wendepunkt sein.
    Ein Junge klopft. »Fünf Minuten, Monsieur.«
    Lichtreflexe zucken über sein Gesicht, als er den Rest Wein austrinkt. Er sorgt sich um seine Manschetten. Zum hundertsten Mal sieht er auf die Uhr. Er wartet, bis der ruckende Minutenzeiger die Zwölf erreicht hat.
    Er wirft einen letzten, beruhigenden Blick in den Spiegel, bürstet ein paar imaginäre Fusseln von seinem Revers und bekreuzigt sich. »Bitte, lieber Gott, lass es gut gehen!«
    Dann atmet er tief ein und öffnet die Tür. Die Musik wird lauter. Sein Herzschlag beschleunigt sich. Er geht auf den Saal zu.
     
    Im Innern der neuen weißen Marmorpracht des Théâtre des Champs-Élysées läuft ein vergoldetes Band an den Wänden entlang und verbindet die Logen miteinander.
    Alles, was in Paris Rang und Namen hat, ist gekommen. Überall sieht man, wie oberflächlich Bekanntschaften geschlossen werden und sich Leute überschwänglich grüßen. Hier und da brandet Lachen auf und ebbt wieder ab. Fächer entfachen die Flammen des Klatsches, Gerüchte und Gegengerüchte verbreiten sich durch die Gänge.
    Coco hat oft davon geträumt, an einem solchen Ereignis teilzunehmen, doch jetzt hat sie Angst, nicht hierher zu passen. Sie fühlt sich unwohl inmitten dieser seltsamen, reichen Menschen. Fäulnisgeruch umweht den Prunk. Sie beobachtet die befrackten Herren, die sich in die beringten Finger kneifen, und die mit Turbanen umwickelten, von Straußenfederboas gewürgten Damen.
    Die Frauen mustern sie abschätzig. Es liegt nicht daran, dass sie schmuckvoller gekleidet wäre als sie, im Gegenteil,
der Schnitt ihres Kleides ist eher nüchtern. Aber die Schlichtheit ihrer Aufmachung und ihre diskrete Eleganz lassen die anderen Frauen im Vergleich beinahe grell wirken. Außerdem ist ihre Silhouette einschüchternd schlank. Es ist diese vornehme Zurückhaltung, diese edle Unbekümmertheit, die sie als respektlos empfinden. Coco vermittelt den Eindruck, nicht einmal zu versuchen, so zu sein wie sie. Ihr Auftritt wirkt so mühelos, dass sie ihn als heimtückischen Angriff empfinden.
    Coco ist sich der missbilligenden Blicke, die sie auf sich zieht, bewusst. Aber in ihren Augen sind es die anderen, die sich lächerlich machen mit ihren Federn, ihren Taftkleidern und ihren schweren Samtroben. Wenn sie unbedingt wie Pralinenschachteln herumlaufen wollen, ist das ihre Sache, sie jedoch zieht es vor, wie eine Frau
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