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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky
Autoren: Chris Greenhalgh
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Schauspieler sind arm, und, nun ja, sie ist reich. Mit dem Erfolg sind ihre Ansprüche gestiegen.
    »Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich muss unbedingt etwas essen«, sagt sie. In ihren Ohren klingt die Musik nach. Immer noch spürt sie die Vibrationen des Raums.
    Caryathis winkt den Männern. »Lasst uns gehen.«
    »Sieh nur!«, ruft Coco unvermittelt.
    Sie lenkt den Blick ihrer Freundin auf die Magnolien. Als seien sie von der Wucht einer Explosion abgerissen worden, liegen plötzlich überall auf dem Bürgersteig weiße Blüten. Im ersten Moment ist sie von den im Licht des Theaters leuchtenden Blütenblättern fast geblendet.
    Wieder spürt sie die Erregung einer Braut. Sie wirft die Schultern zurück und präsentiert ihr Profil, ruhig und gelassen wie auf einer Münze.
    »Ja, kommt«, sagt sie, »lasst uns gehen.«
    Arm in Arm gehen Coco und Caryathis voran. Die Männer folgen ihnen. Niedergeschlagen setzt Charles den Hut auf und stochert mit der stählernen Spitze seines Gehstocks nach den Blüten.
    Coco winkt ihnen, sie sollen sich beeilen. »Auf uns wartet ein Tisch bei Maxim’s.«

Kapitel 3
    1920
    ENTTÄUSCHT UND VERÄRGERT darüber, dass er kein Klavier zur Verfügung hat, spielt Igor in seinem Pariser Hotelzimmer auf einer stummen Klaviatur. Zur Stille verdammt, sitzt er auf dem Fußboden, die Klaviatur quer über dem Schoß. Seine Füße drücken nicht existierende Pedale. Sein jüngerer Sohn, der zehnjährige Soulima, sitzt neben ihm, fasziniert von den seltsamen Brücken, in die sich die Hände seines Vaters verwandeln, während sie lautlos die Tasten überspannen.
    »Darf ich auch mal?«
    »Gleich. Ich bin noch nicht fertig.«
    »Wann bist du denn fertig?«
    »Warum siehst du mir nicht zu und versuchst, die Töne zu erraten?«
    Soulima nimmt die Herausforderung an. Er summt mit und folgt dabei annähernd den Tonwechseln, die durch Igors Finger angezeigt werden. Als er die oberen Töne erreicht, bricht seine Stimme.
    Igor lacht. »Das war ziemlich gut.«
    »Darf ich jetzt auch mal spielen?«
    Igor zerzaust seinem Sohn das Haar. »Na gut.«
    Er liebt den Jungen, seine großen treuherzigen Augen und die kleine Stupsnase. Er nimmt ihn auf den Schoß und stützt die Klaviatur mit den Knien. Ihm fällt auf, dass Soulima seine langen, feingliedrigen Finger geerbt hat, ganz anders als die Stummelfinger seines älteren Bruders. Sein Haar ist
voller und seine Augen sind dunkler als die von Théodore, und Igor ist bewusst, dass er bei Weitem der hübschere der beiden Jungen ist.
    »Versuch einmal, die rechte Hand nicht zu bewegen und mit der linken die Harmonien zu verändern. Gut so.«
    Während er ihm beim Üben zusieht, stellt sich Igor die Töne vor, die durch den Druck auf die Tasten erzeugt werden. Das Muster aus Schwarz und Weiß.
    Er hat in den drei Jahren des Exils seit der Revolution - und den zwei Jahren seit Ende des Krieges - eine wachsende Zuneigung zu den schwarzen Tasten entwickelt. Sie liegen versetzt zu den weißen und bilden eine wirkungsvolle, ja heilsame Ergänzung zu ihnen. Wie die schwarzen Tasten hat auch er erfahren, wie es ist, anders zu sein. Er kommt sich vor wie sie, ein wenig aus dem Zentrum verschoben, als hätte sich die Welt um zehn Grad geneigt.
    Seine Heimat Russland wurde noch viel stärker und gewaltsamer erschüttert, und zusammen mit Tausenden weiteren Flüchtlingen wurde Igor von dem unerbittlichen Erdrutsch gen Westen mitgerissen. Jetzt sitzen er und seine Familie zusammengepfercht in zwei kleinen Zimmern eines bescheidenen Pariser Hotels und kommen nur dank der Großzügigkeit einiger Gönner und den spärlichen Einkünften durch gelegentliche Konzerte und veröffentlichte Partituren über die Runden.
    Da Igor sich in der Schweiz aufhielt, als die Unruhen losbrachen, hat er alles verloren: sein Geld, seinen Grundbesitz und - das Kostbarste von allem - seine Sprache. Ihm wurde die Gelegenheit genommen, sich von seinen Freunden zu verabschieden, die Möglichkeit verwehrt, einige persönliche Dinge einzupacken, und so hat er den Verlust bis heute nicht verwunden. Nachdem ihm der Boden so grausam unter den
Füßen weggezogen wurde, hat er immer noch das Gefühl, als sei er mitten im Fall.
    Seine Frau Jekaterina ist häufig krank, seit sie im erzwungenen Exil leben. Ihre vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter, wachsen als Staatenlose auf. Aber obwohl ihr Leben unstet ist, tröstet sich Igor mit dem Gedanken, dass die Familie enger zusammengewachsen ist als
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