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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky
Autoren: Chris Greenhalgh
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je zuvor. Sie haben gelernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen und einander bedingungslos zu vertrauen. Da sie nie lange genug an einem Ort bleiben, um dort Wurzeln zu schlagen oder neue Freunde zu finden, sind die Geschwister sehr schnell ihre eigenen besten Freunde geworden. Und ohne den Rückhalt einer erweiterten Familie wurde die Ehe ihrer Eltern zum einzigen Fixstern in einem ungewissen Universum.
    »Wie lange bleiben wir noch hier, Papa?«
    »Bis wir etwas Besseres finden.«
    »Und wie lange dauert das noch?«
    »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht mehr allzu lange.«
    »Hier gefällt es mir nicht. Ich will ein eigenes Zimmer haben.«
    »Wir müssen alle zusammenrücken. Das weißt du.«
    »Ich möchte mein Zimmer aber nicht mehr mit Milena teilen. Sie redet im Schlaf und hält mich wach, und außerdem kneift sie mich immer!«
    »Für sie ist es doch auch schwer.«
    »Würden sie uns umbringen, wenn wir zurückgehen würden?«
    »Das glaube ich nicht. Wir haben ja nichts Böses getan.«
    »Aber den Zaren und seine Kinder haben sie umgebracht, nicht wahr?«
    »Bald kommt der Sommer. Dann wird alles einfacher. Du wirst schon sehen.« Aus seinen Worten spricht eher Hoffnung
als Überzeugung. Schuldgefühle überkommen ihn. Er spürt, wie Soulimas Finger die Tasten energischer herunterdrücken.
    Igor liebt seine Kinder über alles. Er bewundert ihre Anpassungsfähigkeit, die Art und Weise, wie sie mit allem zurechtkommen, womit sie konfrontiert werden, wie sie einfach immer weitermachen. Aber für ihn ist das Bedürfnis zu fliehen zu einer Art Gift geworden, das in seinem Blut kreist. Nach der Flucht aus seiner Heimat verspürt er den inneren Zwang, immer in Bewegung zu bleiben. Er lässt ihm keine Ruhe. Auch jetzt spürt er tief im Herzen einen Impuls, der ihn weitertreibt. Und weil es nicht länger einen Ort gibt, den er als sein Zuhause betrachten kann, genießt er diese Sehnsucht nach einem Anderswo, wie fern und vage es auch sein mag. Zu lange an einem Ort zu bleiben erfüllt ihn mit einem Gefühl der Ruhelosigkeit. Er sehnt sich nach der steten Bewegung wahrhaft freier Menschen - nach einer reibungsfreien Existenz.
    Flucht.
    Hier fühlt er sich eingesperrt. Das Leben in so beengten Verhältnissen hat die Beziehungen innerhalb der Familie nicht nur gestärkt, sondern auch belastet. Er wünscht sich mehr Zeit und Platz zum Komponieren. In den letzten Jahren hat er ein paar gute Sachen geschrieben. Die Nachtigall wurde wohlwollend aufgenommen und auch die Geschichte vom Soldaten , aber ihm fehlt der finanzielle Rückhalt. Er braucht eine Struktur in seinem Leben, irgendeine Stütze. Im Moment prallen die beiden bestimmenden Faktoren seines Lebens - seine Familie und seine Arbeit - wie Kontinentalplatten aufeinander. Unweigerlich kam es dabei zu Verwerfungen, begleitet von gelegentlichen Zerwürfnissen zwischen den Kindern und ihren Eltern und vorübergehenden
Eruptionen zwischen den Eltern selbst. Er ist aufbrausend, und ihm ist bewusst, dass er manchmal ohne jeden Grund außer sich gerät. Dann ärgert er sich über sich selbst, weil er seinen Zorn an den Menschen auslässt, die er liebt.
    Jede Nacht betet er, dass sich ihre finanzielle Situation bessert, dass das Glück endlich zu ihnen zurückkehrt. Bis dahin wartet er auf Neuigkeiten von Diaghilew über die Finanzierung künftiger Projekte. Ein paar neue Aufträge würden schon reichen, würden etwas Geld einbringen und ihnen ein komfortableres Leben ermöglichen. Doch nun drückt er lautlos die Tasten und führt Soulimas vertrauensvolle Hände in Läufen über die Klaviatur.
    So, denkt er, könnte womöglich der Rest seines Lebens aussehen. Bei der Vorstellung, gelangweilte Hausfrauen und heranwachsende Jungen in Kontrapunkt zu unterrichten, läuft ihm ein leiser Schauer über den Rücken.
    Soulima unterbricht sein Spiel. Beide horchen auf, als plötzlich ein Rauschen das Zimmer erfüllt. Der Regen, der schon den ganzen Tag über fällt, ist unvermittelt zur Sintflut geworden. Sie hören ihn in den Dachrinnen trommeln. Zusammen mit seinem Sohn tritt er ans offene Fenster. Verirrte Tröpfchen sickern herein, landen auf ihren Händen und Gesichtern und sprenkeln den Marmorboden mit kleinen Flecken. Er legt erst seine Hände, dann die Stirn an das kühle Glas.
    Er erinnert sich daran, wie er als Junge ein Fünf-Kopeken-Stück anhauchte und es gegen das zugefrorene Fenster drückte, bis die Wärme der Münze einen Blick auf die Welt dort draußen
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