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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky
Autoren: Chris Greenhalgh
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Als er sie wieder wegnimmt, sind sie klebrig und dunkel
vor Blut. Er schaut zu Coco hinüber, sein Flehen um Liebe ist zu einer schwachen Hoffnung auf Mitleid geschrumpft.
    Dimitri sieht sie an und wartet ab, wie sie reagiert. Entschuldigend zuckt er mit den Schultern. Er will etwas sagen, doch dann überlegt er es sich anders.
    »Heb sie auf!«, herrscht sie ihn wütend an.
    Sie deutet auf die beiden Patronenhülsen am Boden. Empört über seine Gefühllosigkeit, aber gleichzeitig auch ungerührt von Igors stummem Flehen, schüttelt sie den Kopf. Dann wendet sie sich ab und geht davon.
    Verlegen bleibt Dimitri noch einen Moment stehen, dann trottet er hinter ihr her. Igor bleibt allein im feuchten Gras sitzen. Er sieht seinen Atem vor sich aufsteigen und spürt, wie das Blut unter seiner Nase gerinnt. Es scheint, als seien all seine Ängste in der Kälte eingefroren.
    Unbeholfen nimmt er seine Brille ab und untersucht den Riss.

Kapitel 30
    JEKATERINA UND DIE Kinder sind seit über einer Woche fort, Joseph und Marie haben immer noch Urlaub, Piotr hat einen freien Tag, und Coco und Dimitri sind zusammen ausgeritten - wieder einmal. Igor fühlt sich einsam und verlassen in dem großen Haus.
    Er hat gerade erfahren, dass seiner Mutter ein Ausreisevisum bewilligt wurde. Er sollte sich darüber freuen, aber die Nachricht erfüllt ihn mit Panik. In ihrem Telegramm schreibt sie, dass sie einen Brief von Jekaterina erhalten habe und nun wissen muss, ob sie nach Biarritz oder Garches reisen soll. Aus ihrer kurzen Nachricht folgert er, dass sie nicht viel weiß - nur, dass sie im Moment nicht zusammen sind. Jekaterina hätte ihr nie etwas von ihrer Trennung geschrieben. Er kennt sie gut genug, um sich dessen sicher zu sein. Aber was soll er sagen? Wie soll er es seiner Mutter erklären? Er faltet das Telegramm zu einem kleinen Quadrat zusammen, als könnte er so auch seine Probleme auf eine überschaubare Größe reduzieren.
    Die Stille um ihn herum sträubt sich unbehaglich. Es schmerzt ihn, als sein Blick auf das Bild seiner Mutter fällt. Unwillkürlich kommt er sich schrecklich albern vor. Und wie ein Kind, das etwas Böses getan hat, fürchtet er sich vor der Zurechtweisung.
    Er weiß, dass er sich verrechnet hat, und denkt darüber nach, welchen Preis er dafür wird zahlen müssen. Dann schweifen seine Gedanken zu Jekaterina, und er fragt sich,
wie sie wohl allein mit den Kindern zurechtkommt. Plötzlich steht ihm ihr Bild vor Augen, wie sie mit Freunden zusammensitzt und über ihn lacht. Und unvermittelt kommt ihm der Gedanke, dass sie die Zeit ohne ihn möglicherweise sogar genießt. Vielleicht hat die Trennung sie befreit. Bei dieser Vorstellung wird ihm bewusst, wie gestaltlos sein eigenes Leben in diesem Moment ist.
    Gewissenhaft stimmt er das Klavier. Sorgfältig korrigiert er jeden Ton: alle achtundachtzig nacheinander. In gemächlichen Glissandi zieht er zunächst die Hände über die Tasten. Dann werden die Klänge klar und strahlend, fließen an das fröhliche Plätschern eines Bachlaufs erinnernd durch das Haus.
    Endlich kann er sich seinen Improvisationen hingeben.
    Er spielt mit elegischer Zärtlichkeit und selbstzerfleischender Ruhe. Sanft berühren seine Finger die Tasten und lösen sich wieder davon. Er schließt die Augen und schöpft tief aus seinem Innern. Die Töne steigen unter seinen sich weit spreizenden Fingern auf. Er entspannt sich und lässt seinen Geist von der emotionalen Dynamik der Musik mitreißen. Akkorde schwingen sich auf zu höchster Ekstase und verschmelzen erneut zu Bedauern.
    Er spielt mehrere Stunden, seine Finger folgen seiner exzessiven Leidenschaft. Igor ist wie verklärt, er scheint in innige Konversation mit dem Klavier versunken.
    Als es Zeit fürs Mittagessen wird, hat er keinen Hunger und spielt einfach weiter. Er hört nicht einmal, wie Coco und Dimitri albern kichernd von ihrem Ausritt zurückkommen.
    In den Nachmittagsstunden arbeitet er hart an Spannungen und Verzögerungen, um die Sinfonien vor dem pathetischen Höhepunkt zu verlangsamen. Die Harmonien sollen sich verdichten und die Dissonanzen sich zum Ende hin doch noch
in vollkommenem Einklang auflösen. Zum Abschluss strebt er nach überraschendem Stillstand: dem Eindruck befleckter Stille.
     
    An jenem Abend sitzt Igor allein in seinem Arbeitszimmer und betrinkt sich bis zur Besinnungslosigkeit.
    Er leert zwei Flaschen Wein, gefolgt von einem halben Dutzend kleiner Gläser Wodka. Er trinkt schnell, bis alles vor
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