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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky
Autoren: Chris Greenhalgh
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Stöße und zarten Passagen, sieht die Farben, die die Töne in seinem Geist erzeugen. Ein scharfer Harzgeruch steigt von den Streichern auf. Er hört, wie die vertrauten Es- und Fis-Dur-Akkorde sich aneinander reiben.
    Die Musik beschwört Bilder aus jener Zeit herauf, als er den Sacre überarbeitet hat. Er sieht sich selbst am Klavier in Bel Respiro mit seinen Tintenstiften und den Notenblättern auf der Ablage über den Tasten. Er erinnert sich an das Sonnenlicht und den Gesang der Vögel, die sein Arbeitszimmer erfüllten. Und dann kommt ungefragt auch die Erinnerung an Coco zurück, deren Züge von den Rhythmen herbeigezaubert werden. Ihr breiter Mund, das kurze schwarze Haar,
die dichten, geschwungenen Augenbrauen, ihre Hände, die auf die Akzente des Klaviers reagieren. Ihre Küsse. Wie sich ihre Augen verdunkelten, wenn er in sie eindrang, und wie sie sich bewegte, wenn sie sich liebten.
    Der Anblick bohrt sich wie ein Messer in seinen Körper.
    Schockiert wird ihm bewusst, wie sehr ihn die Musik berührt. Bis jetzt war Musik für ihn immer etwas Absolutes, eine reine, authentische Essenz, die für nichts anderes steht als sich selbst. Nachdem er der expressiven Qualität seiner Werke so lange widerstanden hat, ist er nun plötzlich überwältigt von den Bildern und Erinnerungen, die sie heraufbeschwört. Seine Kehle schmerzt, und seine Beine zittern. Als er die Musik jetzt hört, ist er überrascht von der Wirkung, die sie auf ihn ausübt. Trotzdem hat diese Erfahrung nichts Sentimentales, nichts Überladenes oder Verschwommenes. Die Erinnerungen sind klar und deutlich und das Gefühl des Verlusts dadurch umso schmerzlicher. Er spürt die Traurigkeit wie eine Last auf seinem Herzen.
    Nur der Konzertmeister, der ihm am nächsten sitzt und am eifrigsten darauf bedacht ist, seinen Blick aufzufangen, bemerkt etwas. Er allein sieht die Träne im Auge des Dirigenten.
    Igor spürt, wie sie sein Auge schwimmen lässt und zu einer Linse wird, die all die Schmerzen und Sehnsüchte, all die Zärtlichkeit und die Liebkosungen seiner Zeit mit Coco bündelt und für einen Moment jene Monate zusammenfasst, die er in Garches verbracht hat. Die Träne dehnt sich, spannt sich zu einem Tropfen, bis sie bricht - und mit ihr zersplittert auch die Erinnerung an ihre Beziehung unwiderruflich in tausend Stücke. Plötzlich drängt die Musik wieder in sein Bewusstsein. Das Schlagzeug dröhnt, die Streicher spielen schneller, und das Blech nähert sich mit orgiastischem Stampfen. Weite Klangbögen.

    Die Träne rinnt aus seinem Auge, gleitet immer schneller an seiner Wange hinab und verlangsamt ihren Lauf in der Falte neben seiner breiten Nase. Schließlich fließt sie um seinen Mundwinkel und, wird in die dunkle Leere hineingesogen, wo sie auf seiner Zunge schmilzt.

Kapitel 32
    AM LETZTEN TAG ihres Lebens, einem Sonntag, kehrte Coco von einer Spazierfahrt zurück.
    Sie schickte ihren Fahrer weg und ging durch die Drehtür des Hotels Ritz in Paris. Sie war erschöpft und immer noch verstört von dem, was sie gesehen hatte. Ihr Körper fühlte sich so schwer an, dass jeder Schritt sie herunterzuziehen schien.
    Wie in den Zeitungen angekündigt, waren an jenem Morgen in der Stadt die Tauben getötet worden. Nicht nur der Anblick dieses Gemetzels hatte Coco schockiert, sondern auch die plötzliche Stille ringsum. Abgesehen vom gelegentlichen Brummen des morgendlichen Verkehrs waren die Hintergrundgeräusche der Stadt verschwunden. Ihre Melodie, das permanente Gurren der Vögel, war verstummt. Nebel hing in den Bäumen und verwandelte sie in Geister. Die Stadt wirkte ausgebleicht, als hätte sie alle Farbe verloren. Der Verwesungsgeruch, der Coco draußen in die Nase gestiegen war, hatte sie beinahe ohnmächtig werden lassen.
    Zurück in ihrer Suite im Ritz, ruhte sie sich auf ihrem Bett aus. Sie brauchte erst am nächsten Morgen wieder zurück an die Arbeit zu gehen. Ihr Blick schweifte über die weißen Wände, die mit Blumen gefüllten Vasen und die ledergebundenen Bücher in den Regalen. Aber in ihrem Innern fühlte sie eine seltsame Leere anschwellen.
    Von ihrem Bett aus hörte sie die Kirchenglocken. Ihr Klang versetzte sie für einen Moment zurück in ihre Schulzeit im
Kloster in Aubazine. Sie erinnerte sich an die Gebete, die am Altar geflüstert wurden, an die Kerzen, die über Reihen vertrockneter Blumen schimmerten. Und über all die Jahre hinweg roch sie den stechenden Geruch des Weihrauchs, dessen Schwaden über der
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