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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Autoren: Tarek Siddiqui
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dass es auf Dauer sowieso nicht funktioniert hätte. Und ohnehin machte ich mir nichts aus Reisen. Sie brachten nur das Mindestmaß an Ordnung durcheinander, das meinem Dasein Substanz gab. Kein Wunder, dass Menschen so unausgeglichen aus der Ferne zurückkehrten, wie sie dahin aufgebrochen waren: Sosehr die Idee des anderen Lebens, vielleicht sogar eines Neubeginns auch lockte, die Wirklichkeit der Fremde und des Fremdseins war großteils beunruhigend. Und wenn einer unterwegs wirklich etwas Neues erfuhr, dann nur, weil die geänderten Umstände aufnahmebereiter machten, und Dinge, die man längst wusste oder hätte wissen können, den Charakter einer Entdeckung annahmen.
    Mir selbst schien es so, als ließ e ich zu viel zurück, um regelmäßig zu verreisen – Gewohnheiten, Bequemlichkeiten, Bücher.

    Lehrer wollte ich nicht werden. Das Ausland reizte mich nicht übermäßig. Ich sah nicht mehr, wohin das alles führen sollte. Mit einem akademischen Abschluss irgendwo fachfremd auf eine Position mit Personalverantwortung zu hoffen und zu warten, kam mir nicht in den Sinn. Nach langer Zeit war mir wieder danach, meine Hände zu gebrauchen, etwas anzufassen, das nicht aus Papier bestand oder auf einem Bildschirm dargestellt wurde.
    An jenem optimistischen Tag Anfang Mai also, die Luft noch frisch vom Frü hling mit einem Anflug von der Wärme des kommenden Sommers, rief Daniel an, mit dem ich in der schon bald ein Jahrzehnt zurückliegenden Zeit meines Zivildienstes unzählige gemeinsame Schichten absolviert hatte. Meist auf einen Krankentransportauftrag wartend, oder auf einen der seltenen Notfalleinsätze, welche wir dann, ich schreibe das auf die Gefahr hin, kaltherzig zu klingen, stets mit einiger Begeisterung absolvierten.
    Ich hatte mich danach anderen Dingen zugewandt, wä hrend er ehrenamtlich, jedes Jahr ein bisschen weniger, tätig geblieben war. Am Telefon erwähnte er mehrere offene Stellen an einer Rettungswache – einer richtigen, nicht so einem Dornröschenbetrieb wie unserer Zivildienststelle – für die wir zumindest prinzipiell qualifiziert seien. Er war zu dieser Zeit in einer Supermarktkette tätig, gerade bei einer Beförderung übergangen worden, und sagte, er trage sich mit dem Gedanken einer Bewerbung. Ob das nicht etwas für mich sei? Vielleicht in Teilzeit?
    Ich verneinte aus Gewohnheit. Bewarb mich dann doch, zu groß war das Bedürfnis nach Veränderung. Letzten Endes blieb er dem Supermarkt treu, und ich landete in der Chemiestadt, an der Bellavista. Vollzeit.

    Hans Lambertus hieß der Mann, der mich einstellte, ein bärtiger Hüne, dessen Hang zur Körperfülle in seiner Größe aufging; Geschäftsführer der hiesigen Dienststelle des Severinsbundes oder der Severiter, wie sie sich auch nannten. Zupackend und geradlinig, vielleicht sogar herzlich, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt – das jedenfalls war der verschwommene erste Eindruck. Oder ist eine von vorneherein begrenzte Herzlichkeit ein Widerspruch in sich?
    Viel Zeit fü r Betrachtungen blieb nicht, das Vorstellungsgespräch war kurz. Ich hatte zusammengesammelt, was es an Belegen für meine frühere Tätigkeit noch gab – Ausbildungsnachweise, eine Urkunde mit bereits gilbenden Rändern, ein paar Protokolle und Fahrtberichte – aber er hatte sich auf anderen Wegen informiert; die ganze Organisation war landesweit ein dicht geknüpftes, fein verzweigtes Netzwerk. Die da hauptamtlich führten und entschieden, kannten sich alle von Fortbildungen, Seminaren, hatten schon früher miteinander zu tun gehabt, und falls nicht, gab es zumindest einen einflussreichen gemeinsamen Vertrauten, der vermittelte und sich verbürgte.

    So war es auch kein Problem für Lambertus, kurzfristig und unbürokratisch noch einen Platz für mich bei einem Theoriekurs zu arrangieren, danach ein unvermeidliches Praktikum. Ich fiel unter eine Übergangsregelung und bekam die Möglichkeit, mich vom Rettungssanitäter zum Rettungsassistenten weiterzubilden - einer noch relativ neuen Berufsqualifikation mit normalerweise zweijähriger Ausbildungszeit.
    Es ü berraschte mich, wie schnell das Wissen zurückkehrte, so als habe es nur auf meinen Entschluss gewartet. Ich erinnerte mich wieder einzelner Momente im Klassenraum bei meiner Ausbildung vor vielen Jahren, irgendwo in einem kalten, niedersächsischen Winter: Wie man angesichts all der noch nie gehörten, noch nie bedachten Versagensmöglichkeiten, die der Körper bereithielt, verstohlen und
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