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Ciara

Ciara

Titel: Ciara
Autoren: Nicole Rensmann
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Januars folgte das Frettchen seinem neu erwachten Instinkt und suchte Ciara auf.
    Sofern es Tiere gab, die in der Lage waren zu lächeln, gehörte das Frettchen in diesem Moment eindeutig zu ihnen.
     

Monate später
     
    Mike hatte sein Praktikum im Krankenhaus beendet und suchte nun nach einer Anstellung. Seine Wohnung hatte er gekündigt und brachte die wenigen nicht zerbrochenen Utensilien und Möbel in Ciaras Haus, in dem er sich mehr und mehr heimisch fühlte. Auch seine Harley erhielt ein trockenes Plätzchen im Geräteschuppen.
    Er traf sich weiterhin mit den Brothers der
Driving Snakes,
die ihm einen Teil seines alten Lebens zurückgaben, obwohl er wusste, dass es nie wieder so sein würde wie vor seiner Begegnung mit Ciara.
    Merkwürdigerweise vermisste er nicht einen Tag. In den letzten Monaten begriff er auch den Satz, den er auf dem gelben VW-Post-Bus gelesen hatte, als sie in die Niederlande gefahren waren:
Nur wer über den Horizont hinausschaut, versteht auch das, was sich darunter befindet!
    Durch ihre Einzigartigkeit verschaffte Ciara ihm einen Einblick in die Unendlichkeit des Horizonts. Er wusste, dass da noch mehr zu finden war, mehr, was es zu entdecken galt. Wann dies der Fall sein sollte, wusste er nicht. Vielleicht nicht einmal in diesem Leben. Aber die Gewissheit, dass dort – über dem Horizont – etwas auf ihn wartete, ließ vieles um ihn herum – unter dem Horizont – leichter, selbstverständlicher und weniger kompliziert erscheinen.
    In den letzten Monaten schien Mike dazu verdammt, Ciara mit Blut zu versorgen, wenn sie ihre mentalen Übungen übertrieb. Und bei ihrer Wut über das Erbe, dass ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, ohne zu ihren Lebzeiten jemals ein Wort darüber zu verlieren, überschritt sie häufig ihre Grenzen bis hin zu Fieberschüben und Ohnmacht. Seit nunmehr sechs Wochen aber schien sich Ciara mit ihrer Gabe abgefunden zu haben, auch mit der Pflicht, die Seelen der Toten in sich aufnehmen zu müssen. Drei Mal am Tag trank sie ihr Lebenselixier wie Medizin. Das Blut dafür besorgte Mike regelmäßig beim Schlachter.
     
    In der Nacht des 31. Oktobers dieses besonderen Jahres spazierten sie gemeinsam durch die Stadt. Das nach wie vor namenlose Frettchen saß auf Ciaras Schulter und wippte im Takt ihrer Gangart. Sie erfreuten sich an erleuchteten, gruselig geschnitzten Kürbisgesichtern, lachten über die Späße der als Geister, Teufel oder Hexen verkleideten Kinder und mieden die überfüllten Kneipen, in denen Erwachsene das für Ciara heilige Fest mit Alkohol verhöhnten.
    »Schau mal, da!« Ciara lachte. Mike sah sie an, niemals zuvor hatte er sie so fröhlich und gelöst erlebt. Dann erst folgte er ihrem Zeigefinger mit seinem Blick und sah, dass sich das Frettchen durch die Augenhöhlen eines mit einer Lichterkette beleuchteten Kürbisses gewunden hatte und dabei mit seinem Hinterteil im rechten Loch stecken geblieben war. Es wackelte so heftig hin und her, dass der Kürbiskopf von der Mauer, auf der er abgestellt worden war, herunterkullerte. Wie eine überdimensionale behaarte Schnecke hockte das Frettchen hilflos auf dem Boden und blinzelte Ciara und Mike an, als wolle es sagen: »Glotzt nicht so blöd, helft mir lieber!« Ciara kniete sich zu dem Tier und befreite es aus seinem Gefängnis. Sie kicherte, murmelte Worte, die Mike nicht verstand, und setzte es zurück auf ihre Schulter.
    »Bleib besser dort oben sitzen, sonst verlieren wir dich noch.«
    Vorsichtig stellte sie den Kürbis wieder an seinen Platz, legte die Lichterkette hinein und drehte sich zu Mike: »Lass uns nach Hause gehen. Ich bin müde.«
    »Was passiert, falls heute kein Nebel aufkommt?« Bei dem Gedanken an das anstehende Ereignis verspürte Mike ein kribbeliges Gefühl im Magen, teils Aufregung, teils Angst.
    »Dann hab ich Pech gehabt«, antwortete Ciara. »Ich erinnere mich aber nicht an einen 31. Oktober in meinem Leben, an dem kein Nebel aufkam. Nur diesmal werden meine Verwandten nicht mich besuchen, sondern ich sie.«
    Ihre Schritte hallten auf den Pflastersteinen, als sie eine schmale Gasse durchquerten. Die gelb beleuchteten Fenster der mit schwarzem Schiefer versehenen Häuser, die sich eng aneinanderschmiegten, schienen sie neugierig zu beäugen. Abrupt stoppte Ciara, schloss die Augen und atmete tief ein. Mike musterte sie. Der Motor in seinem Bauch schnurrte jetzt lauter.
    Obwohl er wusste, dass sie niemals ein Paar werden durften, fühlte er sich nicht dazu in der
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