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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe
Autoren: Andreas Pittler
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werden, sagt man.“
    „So? Sagt man das? Weißt, Pokorny, was ich dir sag? Mach uns erst einmal einen Kaffee, und dann schau’n wir weiter.“ Pokorny hatte dem Begehren seines Vorgesetzten nichts entgegenzusetzen, und so fügte er sich ins Unvermeidliche.
    „Deine Mutter hat übrigens gestern angerufen“, sagte er, während er an der Kaffeemaschine herumhantierte. Bronstein wurde sofort hellhörig. „Angerufen? Wie denn das um alles in der Welt! Wann? Und was wollte sie?“
    „Sie hat g’sagt, dass dein Vater krank ist und du nach ihnen schauen sollst. Sie glaubt, dass er sich die spanische Grippe eingefangen hat.“
    „Und das sagst du mir einfach so zwischen Tür und Angel?“ Bronstein war aufgesprungen und sichtlich erregt. An der spanischen Grippe waren zuletzt etliche Wiener erkrankt, und viele hatten sie ob des vielfältigen Mangels nicht überlebt. Mit einer solchen Krankheit war ergo nicht zu spaßen. Dementsprechend groß war Bronsteins Sorge: „Wann genau hat sie angerufen?“
    „So kurz vor fünf wird’s gewesen sein. Du warst noch keine zehn Minuten bei der Tür raus.“
    In Bronstein stieg ernster Unmut auf: „Und das sagst du mir einfach so beiläufig? Du weißt doch, wie g’fährlich diese Grippe ist. Grad jetzt! Und meine Eltern haben gar kein Telefon, das heißt, meine Mutter muss extra aufs Amt gegangen sein, damit sie mich da anruft. Das zeigt doch, wie ernst die Lage ist. Pokorny, manchmal bist echt ein Ochs!“
    „Tschuldigung, Major, das hab ich mir net dacht. Ich hab dir ja schwer nachlaufen können. Und wenn’s wirklich dramatisch ist, hab ich mir denkt, dann wird sie sich schon wieder melden.“
    „Wird sie sich schon wieder melden“, äffte Bronstein die letzten Worte seines Mitarbeiters nach. „Du bist mir einer! Vergiss den Kaffee. Jetzt kann ich zu meinen Eltern laufen, weil sonst sitz ich da wie auf Nadeln. Du hältst die Stellung.“ Bronstein streifte die Handschuhe ab und war aus dem Zimmer geflüchtet, ehe Pokorny etwas erwidern konnte. Diesem blieb nur, seinem Chef staunend nachzublicken.
    Die eisige Kälte kam Bronstein nun entgegen. Er lief quer über den Platz vor der Votivkirche und wartete vor der Universität auf einen Ringwagen. Ob der überhaupt verkehrte? Die Demonstrationen am Ring hielten an, und überall standen abgehalfterte Soldaten in Gruppen herum, denen, ohne dass Bronstein dies näher zu spezifizieren gewusst hätte, etwas Bedrohliches anhaftete. So unrecht hatte Pokorny eigentlich nicht. Überall hing ein Wort in der Luft: Revolution! Doch gerade in Wien wurde nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wurde, schöpfte Bronstein neuen Mut. Sicher, 1848 hatte der Mob den Kriegsminister auf die Gaslaterne geknüpft. Doch die Monarchie hatte sich blutig für diese Aufwallung gerächt, und so war seit 70 Jahren in Wien nichts mehr vorgefallen, was auch nur im Ansatz die Obrigkeit hätte herausfordern können. Warum also sollte es diesmal anders sein?
    Bronstein hatte ohnehin andere Sorgen. Sein Vater war nicht mehr der Jüngste, und so konnte eine Erkrankung schnell ernsthafte Folgen haben, zumal der alte Herr schon beim letzten Treffen nicht mehr sonderlich gut beisammen gewesen war. Kam da jetzt eine Tramway, oder kam da keine? Hektisch streckte Bronstein seinen Kopf und spähte in Richtung Börse, ob sich eine Straßenbahn der Universität nähern würde. Es war immer noch nichts zu sehen. Sein alter Herr! Im Sommer hatte er seinen 70. Geburtstag gefeiert, und da war er schon nicht mehr der Alte gewesen. Seit der Kaiser selig diese Welt verlassen hatte, war auch Bronstein senior des Lebens überdrüssig geworden. Eine zutiefst traurige Geschichte, dachte Bronstein, denn jemand wie sein Vater, der seinem Staat immer treu gedient hatte, war am Ende umfassend vom Leben betrogen worden.
    Da immer noch keine Tramway auftauchte, beschloss Bronstein, zu Fuß zum Rathaus zu gehen, und während er an zahlreichen Gruppen vorbeispazierte, die irgendwelche Parolen von sich gaben und sich gegenseitig zu überschreien trachteten,haderte er mit dem ungerechten Schicksal, mit dem sein Vater geschlagen war. Dessen Karriere hatte schon mit einer Niederlage begonnen. Immer wieder hatte sein Vater ihm erzählt, dass sein erster Arbeitstag im Ministerium just jener gewesen war, als die Nachricht von der Niederlage bei Königgrätz in Wien eingetroffen war. Der Vater hatte als kleiner Diurnist angefangen, doch das Geld von Großvater Bronstein reichte nicht, dem
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