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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe
Autoren: Andreas Pittler
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Land werden, hatte er sich damals schon gedacht. Und gleichzeitig gemeint, schlimmer konnte es nicht mehr werden. Was für ein Irrtum!
    Dabei hatte man im Frühjahr neue Hoffnung schöpfen können. Der Russe war endlich besiegt, die kaiserlichen Heerscharen rückten in die Ukraine ein, es gab sogar einen regelmäßigen Flugverkehr zwischen Wien und Kiew mit einer Zwischenlandung in Olmütz. Das mussten die anderen Staaten Österreich erst einmal nachmachen, war ihm damals durch den Kopf gegangen. Und die Niederlagen der Italiener ließen die Möglichkeit, den Krieg doch noch zu gewinnen, mit einem Mal wieder realistisch erscheinen. Hatten nicht die Deutschen gesagt, wenn es erst einmal vorbei war mit dem unseligen Zweifrontenkrieg, dann würde man die Westmächte schon in die Knie zwingen? Mitnichten! Die Soldaten wollten einfach nicht mehr.
    Und er, Bronstein, konnte es ihnen nicht verübeln. Mit Schrecken dachte er an seine eigene Zeit an der Front. Was war er im Sommer 1914 nur für ein Dummkopf gewesen! Freiwillig hatte er sich gemeldet, um die Beleidigung, die seine allerhöchste Majestät hatte hinnehmen müssen, entsprechend zu rächen. Aufgrund seines Ranges bei der Polizei hatte er eine Offiziersuniform erhalten und war, bejubelt von der Wiener Bevölkerung, zum Ostbahnhof marschiert. Noch heute hatte er die optimistischen Rufe seiner Kameraden in den Ohren. Nächsten Monat in Sankt Petersburg, hatte es geheißen, und zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause.
    Doch die Wirklichkeit des großen Krieges hatte nichts gemein gehabt mit den glanzvollen Manövern, mit farbenprächtigen Uniformen, würdevoller Marschmusik und pausbäckigenMarketenderinnen. Gleich am zweiten Tag war ihnen ein Sturmangriff befohlen wurden, und die russischen MG-Nester hatten die heimischen Truppen niedergemäht wie die Sense das Korn. Es war ein reines Wunder gewesen, dass er mit heiler Haut zurück in den Unterstand gekommen war, und er hatte drei Tage gebraucht, um sich von dem Schock zu erholen. Einen derartigen Horror hatte er noch nie erlebt, und schon damals bereute er bitter, so töricht gewesen zu sein, seinen sicheren Posten als Polizist gegen den Waffenrock des Kaisers vertauscht zu haben.
    Wenigstens hatten sich beide Seiten rasch den Wahnsinn des Angriffs auf breiter Front abgewöhnt. Was folgte, war ein unglaublich eintöniger Stellungskrieg, in dem beide Seiten sinnlos in die Erde eingegraben waren und darauf warteten, dass irgendetwas geschehen würde, was die Absurdität dieser Situation aufheben mochte.
    Und dann war das Gas gekommen. Bronstein hustete unwillkürlich und dämpfte die Zigarette aus. Eigentlich wollte er gar nicht mehr daran denken, doch dieses Erlebnis würde wohl für immer in sein Gedächtnis eingebrannt bleiben.
    Sechs Monate war er im Lazarett gelegen, dem Irrsinn nahe und in jeder Beziehung ein Wrack. Später hatte es geheißen, seine Genesung sei ein Wunder, denn viele, die gleich ihm vom Gas erfasst worden waren, wurden nie wieder klar im Kopf und blieben zeit ihres Lebens ein Fall für die Anstalt. Immerhin kam aber danach niemand mehr auf die Idee, ihn wieder an die Front schicken zu wollen. Alibihalber hatte er noch einige Wochen in Wien Dienst geschoben, ehe er als „nicht kriegsdienstverwendungsfähig“ zu Beginn des Jahres 1917 wieder in die Wiener Polizei rücküberstellt worden war.
    Dort hatte er eine ganze Weile gebraucht, ehe er sich wieder zurechtfand. Und just als er sich wieder auf sicherem Terrain wähnte, kam ihm der Staat, dem er diente, mit jedem Tag mehrabhanden. Vor fünf Monaten war die letzte große Offensive gegen die Italiener gescheitert, weshalb der Kaiser Conrad von Hötzendorf in die Wüste geschickt hatte. Im Sommer anerkannten die Westmächte die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei, die es freilich zu diesem Zeitpunkt nur in den Köpfen einiger Irredentisten gab. Die kaiserlichen Regierungen kamen und gingen in immer rascherer Abfolge, und im Vormonat hatten die einzelnen Nationen damit begonnen, sich aus der Monarchie zu verabschieden.
    Und als wäre das nicht alles schon schlimm genug gewesen, hatte sich vor einer Woche eine sogenannte „deutschösterreichische Regierung“ unter der Führung eines sozialdemokratischen Abgeordneten gebildet, die in Konkurrenz zur kaiserlichen Regierung unter Professor Lammasch stand. Für Bronstein und seine Kollegen ein klarer Fall von Interessenkonflikt. Wem waren sie nun unterstellt? Dem Minister des Inneren seiner
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