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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe
Autoren: Andreas Pittler
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resigniert. Da war er gerade einmal 35 Jahre alt, und dennoch schlich sich das Alter unerbittlich an ihn heran. Aber bitte, die Jahre im Krieg zählten sicherlich doppelt oder gar dreifach, und demnach wäre er eigentlich schon 47. Der Krieg! Schon wieder hatte er von ihm geträumt. Dass er diesen Horror einfach nicht vergessen konnte! Der Meisendoktor vom Alsergrund würde sicher von einem Trauma sprechen, doch ein Indianer kannte keinen Schmerz, schon gar nicht, wenn die Gefahr längst vorbei war. Und jetzt erst recht, da der Krieg auch offiziell zu Ende war. Die ruhmreiche kaiserlich-königliche Armee hatte vor einigen Tagen ganz offiziell kapituliert, und die Deutschen machten auch gerade Schluss, wie er den Zeitungen entnahm.
    Doch daran wollte er gar nicht erst denken. Die Mittelmächte hatten den Krieg verloren, und niemand vermochte zu sagen, was jetzt aus der österreichisch-ungarischen Monarchie werden sollte. Vor einer Woche erst hatten sich Böhmen, Mähren und Schlesien unter der Führung des ehemaligen Abgeordneten Kramaˇr von Wien losgesagt, und es hieß, auch die Slowenen seien von Österreich abgefallen. Die Polen liefen den Habsburgern ebenso davon wie die Ruthenen und die Rumänen. Und die Italiener sowieso. Eigentlich hielten nur noch die Ungarn zum Kaiser, und selbst da war es fraglich, ob nicht auch in Budapest die Irredenta den Sieg davontrug.
    Bronstein war überrascht, zu welchen Höchstleistungen sein Gehirn zu dieser frühen Stunde schon fähig war. Es stand zu hoffen, dass der Körper dem Geist nacheifern würde, und so gab sich Bronstein einen Ruck, um sich endgültig aus dem Bett zu erheben. Er schlurfte langsam zur Tür seines Schlafzimmers, öffnete sie und ging sodann durch das Wohnzimmer in die Küche, die ob der frühen Stunde noch in milchiges Dämmerlicht getaucht war. Bronstein griff zur Schachtel mit den Streichhölzern, holte eines heraus und rieb es an der Schwefellegierung der Packung. Umständlich ging er sodann in die Knie, öffnete die Ofentür und hielt das brennende Holz an das Zeitungspapier. Dieses fing rasch Feuer, und so konnte Bronstein damit beginnen, kleine Holzscheite zuzugeben. Als er sicher war, dass das Feuer nicht mehr ausgehen würde, schloss er die Klappe wieder und drehte sich um die eigene Achse. Vorsichtig holte er die Lade der Kaffeemühle aus ihrer Halterung und goss den Inhalt in die vorgesehene Vertiefung der Kaffeemaschine. Dann schraubte er den Aufsatz auf und stellte die Kanne auf den Ofen. Wieder einmal überlegte er bei dieser Gelegenheit, ob der Kaffee nicht besser schmecken würde, wenn er das Wasser frisch in die Kanne gösse und den Kaffee erst am Morgen mahlte, doch er wusste, dazu würde seine Energie so kurz nach dem Erwachen niemals reichen.
    Nun, da er darauf wartete, dass der Kaffee trinkfertig wurde, trat er an die Arbeitsplatte. Er schlug das Geschirrtuch aufund legte so einen halben Brotlaib frei. Mit flinken Schnitten säbelte er eine Scheibe ab, auf die er sodann etwas Butter schmierte. Das Produkt seiner Verrichtung platzierte er auf einem Teller, den er sodann zum Küchentisch trug. Just als er dort angekommen war, begann die Kaffeemaschine hörbar zu gurgeln. Bronstein kehrte zum Ofen zurück, holte aus dem Kästchen an der Wand eine Tasse heraus und goss den frisch gebrühten Kaffee erwartungsvoll in das Trinkgefäß. Er fügte etwas Milch und eine Prise Zucker hinzu, dann begab er sich wieder zum Küchentisch, wo er sich nun schwer auf einen der beiden Sessel fallen ließ. Er nahm einen kleinen Schluck aus der Tasse, stellte sie danach ab, um nach dem Butterbrot zu greifen. Gierig schlug er seine Zähne hinein und kaute dann mit großem Genuss.
    Zehn Minuten später zeugten nur noch der leere Teller und die leere Tasse von Bronsteins Frühstück. Er zog den Aschenbecher zu sich, öffnete sein silbernes Zigarettenetui und entnahm ihm eine Zigarette der Marke „Egyptische Sorte“, die er sogleich anzündete. Er sog den Rauch tief in seine Lungen ein, um ihn bedächtig wieder auszublasen. Diese Übung wiederholte er dreimal, ehe er die Asche am Aschenbecher abklopfte, während er sich gleichzeitig mit der linken Hand einige Tabakkrümel von der Lippe entfernte.
    „Und wieder ein neuer Tag. Hurra“, sagte er leise und wehmütig zu sich. Ein Blick aus dem Fenster überzeugte ihn davon, dass der Winter mit Riesenschritten auf die Stadt zukam, und das war, zumal in Zeiten wie diesen, wahrlich keine angenehme Perspektive. Er,
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