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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe
Autoren: Andreas Pittler
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Majestät oder dem Innenminister Mataja, einem christlichsozialen Parlamentarier? Die Einzigen, die in diesen Tagen Grund zur Freude hatten, waren die Kriminellen, denn sie sahen sich einer verwirrten, deprimierten und orientierungslosen Polizei gegenüber, die kaum die Kraft hatte, wirkungsvoll gegen das Verbrechen einzuschreiten.
    Doch was nutzte all das Jammern und Klagen. Dienst war Dienst, egal unter welchem Befehl. Mochten die da oben sich ausmachen, wer jetzt die Order ausgab, er würde einfach tun, was man ihm sagte. Und zu diesem Zweck war es nun unumgänglich, dass er endlich seine Wohnung verließ.
    Auf der Straße empfing ihn ein eisiger Wind. Er schloss seinen Militärmantel so gut es ging und sah zu, dass er zur Straßenbahn kam. Als diese nach einer kleinen Ewigkeit an der Votivkirche vorbeizuckelte, musste sie abrupt anhalten, denn vor der Universität fand schon wieder eine Massenversammlung statt. Bronstein trat hinaus auf die Plattform und blickteneugierig auf die Menschenmenge. Anhand der mitgeführten Banner, die in Schwarzrotgold gehalten waren, erkannte er sofort, dass es sich um Deutschnationale handeln musste, die da demonstrierten. Seit Anfang des Monats zählten solche Manifestationen zum Alltag der ausgelaugten Stadt. Am 1. November hatten rebellierende Soldaten unter Bronsteins altem Kumpel Kisch eine „Rote Garde“ gegründet, zwei Tage später waren die Sozialdemokraten für irgendeine abstrakte Donauföderation auf die Straßen gegangen, und nun marschierten, wie Bronstein in Erfahrung brachte, die Deutschnationalen für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Unwillkürlich musste er schmunzeln. Normalerweise wollten die Österreicher immer auf der Seite der Sieger stehen, diesmal konnten sie es anscheinend gar nicht erwarten, Seite an Seite mit den Teutonen unterzugehen. Und in der Tat erinnerten ihn die fanatisierten Fahnenträger an einen Zug der Lemminge, die zielsicher ihrem Tod entgegeneilten.
    Die Wiener Polizei hatte es schon lange aufgegeben, ihre Konfidenten auf die diversen Gruppen loszulassen, denn es gab mittlerweile offenbar mehr politische Bewegungen als Angehörige der Polizeikräfte. So beschränkte man sich auf das Notwendigste, schützte, so gut es ging, zentrale Gebäude und Persönlichkeiten und hoffte sonst lediglich, dass sich das Gewitter möglichst schnell verzog. Bronstein wartete das Ende der Demonstration gar nicht erst ab. Er sprang vom Wagen ab und eilte quer über die Grünfläche zur Maria-Theresien-Straße, um sein Büro quasi durch die Hintertür zu betreten.
    Er folgte den verwinkelten Gängen und gelangte schließlich zum Paternoster, der ihn in sein Stockwerk brachte. Obwohl nirgendwo ein Fenster geöffnet war, fegte auch hier ein eisiger Wind durch das Gemäuer. Unwillkürlich ging Bronstein schneller und war froh, als er Punkt acht Uhr sein Amtszimmer betrat. Zuallererst widmete er sich dem Kanonenofen, dener üppig mit Holz und Papier füllte, damit wenigstens für ein bisschen Wärme gesorgt war. Er blieb eine Weile beim Ofen stehen und hielt diesem seine klammen Finger entgegen. Bronstein verzichtete darauf, den Mantel auszuziehen, dazu war es entschieden zu kalt. Stattdessen setzte er sich in voller Montur an seinen Schreibtisch und zog die Handschuhe über, von denen er die Fingerspitzen entfernt hatte, um trotz des wärmenden Kleidungsstücks schreiben zu können. Heftig blies er Luft aus und rieb die Handflächen gegeneinander. Dann griff er nach dem Akt, den zu bearbeiten er am Vortag aufgehört hatte.
    „Horrido, Major!“ Mit lautem Gruß riss Bronsteins Mitarbeiter Pokorny die Tür auf und katapultierte sich förmlich in die Amtsstube. „Na, wie hamma’s?“
    „Grüß dich, Pokorny. Keine besonderen Vorkommnisse.“
    „Na du machst mir Spaß, Major“, hielt Pokorny dem entgegen, „rund um uns zerfallt alles, und du sagst: keine besonderen Vorkommnisse.“
    „Na, dass alles zerfallt, das ist ja nichts Neues mehr und somit auch kein besonderes Vorkommnis“, bemerkte Bronstein lakonisch, ohne von seinem Akt aufzublicken.
    „Es heißt, in Berlin wollen s’ die Republik ausrufen“, erklärte Pokorny.
    „A so a Topfen! Grad die Deutschen! Da wird Bayern eher eine Räterepublik wie in Russland drüben. Du solltest net jeden Unfug glauben, Pokorny.“
    „Na grad a so! In Bayern, heißt es, übernehmen grad die Sozis das Kommando. Der Eisner, der was der Führer von der USPD is, der soll bayerischer Ministerpräsident
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