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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe
Autoren: Andreas Pittler
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Bronstein, hatte es da wenigstens noch leichter als viele andere Bewohner dieser Stadt. Er heizte mit Holz, und der Wienerwald begann keinen Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Dort konnte er sich jederzeit mit Heizmaterial versorgen. Erfrieren würde er jedenfalls nicht. Schon eher verhungern, denn seit die Monarchie am Ende ihrer Kräfte war, gab esviele wichtige Nahrungsmittel nur noch im Schleich oder aber überhaupt nicht. Bronstein konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt wirkliches Fleisch gegessen hatte. Und jetzt, im November, wurden sogar Obst und Gemüse rar. Selbst für verwelkte Salatblätter und erbärmliche Kohlrüben stand die Bevölkerung stundenlang an, und es verwunderte Bronstein nicht im Geringsten, dass Hungerrevolten an allen Ecken und Enden des Reiches an der Tagesordnung waren. Manche behaupteten sogar, die Armee habe den Krieg nur verloren, weil sie ihre Soldaten nicht mehr habe ernähren können. Doch diese Behauptung hielt Bronstein ebenso für Gräuelpropaganda wie jene, wonach die Armee, eigentlich unbesiegt, nur von den eigenen Politikern in die Knie gezwungen worden sei, die den völlig überzogenen Forderungen des Mobs nachgegeben hätten.
    Bronstein wusste aus eigener Anschauung, dass diese Behauptungen Unfug waren. Die Bevölkerung hatte sich jahrelang vorbildlich verhalten, hatte jedes Opfer für die eigenen Truppen gebracht und diese aus voller Überzeugung unterstützt. Doch als der Mangel allüberall überhandnahm und gleichzeitig die Arbeitszeit immer weiter ausgedehnt wurde, da war es nur zu verständlich, dass die Menschen endlich Ruhe wollten. Sie hungerten, sie froren, und sie hatten keine Perspektive mehr. Da war es für Aufwiegler ein Leichtes, ihnen einzureden, der Krieg sei an allem schuld.
    Na ja, spann Bronstein weiter, während er die Zigarette ausdämpfte, irgendwie stimmte das ja sogar. Der Krieg war tatsächlich an alldem schuld. Aber man musste auch dazusagen, wer diesen Krieg begonnen hatte. Nicht das Haus Österreich, nicht die Mittelmächte, sondern der Slawe, der Österreich ins Chaos stürzen wollte, und die Westmächte, die den deutschen Waffenbrüdern nicht den wohlverdienten Platz an der Sonne hatten gönnen wollen. Es war wirklich eine Schande, dass sie für diese Anmaßung nicht ihre gerechte Strafe erhalten hatten,aber gegen eine derartige Übermacht, wie sie Frankreich, England und Amerika gemeinsam verkörpert hatten, war eben kein Kraut gewachsen gewesen. Nun musste man sich mit der neuen Situation zurechtfinden und sehen, wie man aus dieser Lage das Beste machte.
    Bronstein widerstand der Versuchung, eine zweite Zigarette zu rauchen, und stand auf. Er zog sich das Nachthemd aus und trat an das Lavoir, um sich zu waschen. Auf dem Weg dorthin fiel sein Blick auf den Spiegel, der über der Waschschüssel hing, und was er darin sah, begeisterte ihn ganz und gar nicht. Ein erbärmlich kleiner, ob der Kälte ziemlich verschrumpelter Penis baumelte sinn- und zwecklos zwischen seinen Beinen herum, während der Bauch schlaff und fahl erschien. Angewidert schlug er sich auf denselben. „Bronstein, du verweichlichst“, sagte er und ging, noch ehe er mit der Waschung begann, mehrmals in die Knie, dabei mit den Armen nach vorne und zur Seite rudernd, als ob ein paar Kniebeugen das Problem im Handumdrehen lösen würden. Als er meinte, vorerst genug getan zu haben, schöpfte er endlich mit seinen Händen Wasser, das er sich sodann ins Gesicht schüttete.
    Er stand schließlich fix und fertig angezogen in seiner Küche und war ausgehfertig. Doch just in diesem Augenblick packte ihn wieder dieses Gefühl der Melancholie, das ihn schon seit Tagen quälte. Instinktiv blickte er auf die Uhr, dann ließ er sich noch einmal auf den Sessel plumpsen. Eine weitere Zigarette würde seine Karriere bei der Wiener Polizei auch nicht beenden.
    Was waren das für Tage gewesen! Schon seit Beginn dieses unseligen Jahres jagte eine Hiobsbotschaft die andere. Bereits im Jänner hatte der amerikanische Präsident die Völker der Monarchie nachgerade zur Desertion ermuntert, und wenige Tage später stand der Staat, dem Bronstein Gut und Blut gegeben hatte, am Abgrund, als zehntausende Arbeiter in denAusstand traten, weil sie nicht mehr genug zu essen hatten. Dass genau zu diesem Zeitpunkt sogar in der Armee eine Revolte losgebrochen war, erschütterte das Land zusätzlich. Wenn nicht einmal mehr das kaiserliche Heer treu zum Herrscher stand, was mochte dann aus einem solchen
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