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Chroniken der Jägerin 3

Chroniken der Jägerin 3

Titel: Chroniken der Jägerin 3
Autoren: M Liu
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zusammengekauert in der Nähe hockte, zog Jasminblüten aus den Schatten und streute sie uns vor die Füße.
    Ich half Grant die Stufen hinauf. Zwar sprach keiner von uns das Thema an, aber mir war schon klar, dass sein Bein schmerzen musste. Er stützte sich schwer auf meine Schulter, und wir bewegten uns zu der melodiösen Dynamik der Sarabande des Balletts. Kurz bevor wir den Treppenabsatz erreichten, bemerkte ich einen Schatten, der durch das goldene Licht, das aus der Tür flutete, ins Treppenhaus trat.
    »Braucht ihr Hilfe?« Byron war jung, höchstens fünfzehn, blass und dunkelhaarig. Er trug eine Jeans und ein weißes
T-Shirt mit der Aufschrift: SHAKESPEARE HASST DEINE SCHMALZ-SONATEN.
    Ich lächelte ihn an. Grant ebenfalls. »Wir haben’s ja schon fast geschafft, aber trotzdem danke.«
    Der Junge nickte zwar, blieb aber stehen, bis wir den Treppenabsatz erreicht hatten. Ich strich ihm durchs Haar. Er lächelte, zumindest ein wenig; es hätte jedoch auch ein Grinsen sein können. In seinem Blick lag aber weder Angst noch Misstrauen. Er war ein guter Junge, intelligent und aufrichtig. Er hatte sein früheres Leben auf der Straße weit hinter sich gelassen.
    Aus dem Apartment hörte ich das Klappern von Töpfen. Grant drückte meine Hand. »Jack war sehr fleißig.«
    »Ist das eine Warnung oder eine Drohung?«
    Byron war bereits im Inneren der Wohnung verschwunden und suchte sich vorsichtig einen Weg durch die Bücherstapel, die hinter der Tür auf uns warteten. »Er hat Kuchen gebacken«, warf er über die Schulter zurück. »Grant hat gesagt, dass du Kuchen hasst.«
    Ich starrte auf den Rücken des Jungen. Grant stützte sich stärker auf seinen Stock und drückte meine Hand ein wenig fester.
    »Ich habe dir nie erzählt, dass ich Kuchen hasse«, meinte ich.
    »Du hast mir auch nicht erzählt, wann du Geburtstag hast, dafür aber, wie deine Mutter gestorben ist.« Er küsste mein Ohr und ließ seinen Mund noch eine Weile dort. »Manchmal funktioniert mein Hirn schon, weißt du.«
    »Du machst mich noch ganz sentimental.«
    »Da ist dir Jack aber zuvorgekommen. Ich bin nicht sicher, ob er in all den Tausenden oder Millionen von Jahren, die er
schon auf dieser Welt weilt, jemals den Geburtstag einer seiner Enkelinnen gefeiert hat.«
    »Ich bin mir aber schon sicher, dass er in all diesen Tausenden oder Millionen von Jahren andere Kinder und eine Unmenge von Enkelkindern hatte.«
    »Mag sein, aber jetzt hat er eben dich.« Grant schlug mir spielerisch auf den Po. »Und jetzt los, Wonder Woman. Extra deinetwegen hat er sich sogar eine Schürze umgebunden.«
    Jemand hatte die Wohnung aufgeräumt. Was so viel hieß wie: dass der schmale Gang, der zwischen Jacks Bücherstapeln freigelassen wurde, ein wenig verbreitert worden war. Die Wände waren mit Regalen übersät, die sich unter der Last all der Bücher und Keramiken, der Masken und Steine bereits durchbogen. Und dabei waren das nur die Wände. Bis zur Mitte des Zimmers waren es von den Wänden aus gut drei Meter, und das war der einzige Platz, an dem man überhaupt hätte stehen und gehen können, ohne zu stolpern. Der Rest des Raumes war mit Türmen aus Büchern, halb offenen Kisten, Akten und Stapeln von Fachzeitschriften vollgepackt, die umzukippen drohten, mit Lampen, die gefährlich wacklig auf Kisten platziert waren und deren Kabel irgendwo in dem Labyrinth verschwanden; mit gebrauchten Kaffeebechern, alter Verpackung von Schokoriegeln – und ab und zu gab es auch ein Glasauge, an dem ich vorbeiging und tat, als würde mir entgehen, dass es mich beobachtete.
    Ich roch den Duft von Kuchen, hörte leises Murmeln und dann das metallische Knarren einer Ofentür, die geöffnet wurde. »Leg das Messer weg!«, befahl Jack – und eine offenbar ältere Frau antwortete: »Wie klingt das denn, Wolf?«
    Ich hatte es endlich durch das Labyrinth geschafft und betrat die Küche. Mein Großvater stand am Tisch – und tatsächlich:
Über seiner Khakihose und dem Smokinghemd trug er eine weiße, gerüschte Schürze mit Kirschen. Trotzdem wirkte sie irgendwie nicht deplatziert an ihm. Mary stand auf der anderen Seite des Tisches. Ihr weißes, wirres Haar fiel locker über die Schultern des marineblauen Hausanzuges, der mit Sternschnuppen bestickt war.
    In ihren großen, kräftigen Händen hielt sie ein Messer, mit dessen Spitze sie von oben in eine der vielen Torten, die auf dem Tisch standen, stach. Diese Torten waren zwischen all den Brettern, Nudelhölzern,
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