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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Autoren: Anne Rice
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wurde. Lastwagen versperrten die Straße; Autos hielten langsam an. Eine lose Zuschauermenge war zusammengekommen, Junge und Alte, nur milde fasziniert, denn Fernseh- und Filmkameras waren in der Gegend von South Beach ein vertrauter Anblick.
    Ich machte einen weiten Bogen um die Scheinwerfer, denn ich fürchtete ihre Wirkung auf meine stark reflektierende Haut. Wäre ich doch einer von diesen Braunhäutigen, die nach teurem Sonnenöl dufteten, halb nackt in mürben Baumwollfetzen herumliefen. Ich bog um die Ecke. Wieder hielt ich Ausschau nach meiner Beute. Erjagte dahin, und sein Kopf war so vollgestopft mit Halluzinationen, daß er seine schlurfenden, achtlosen Schritte kaum noch in der Gewalt hatte. Es war an der Zeit.
    Mit einem kleinen Geschwindigkeitsstoß schwang ich mich zu den niedrigen Dächern hinauf. Der Wind war hier stärker, süßer. Sanft das Tosen erregter Stimmen, die dumpfen, natürlichen Lieder der Radios, das Rauschen des Windes selbst.
    Stumm erhaschte ich sein Bild in den gleichgültigen Augen derer, die an ihm vorbeigingen; stumm sah ich noch einmal seine Fantasien von welken Händen und welken Füßen, von eingefallenen Wangen und eingefallenen Brüsten. Die dünne Membran zwischen Fantasie und Realität würde gleich reißen.
    Ich kam wieder herunter auf den Gehweg der Collins Avenue, so schnell, daß es vielleicht aussah, als erscheine ich einfach. Aber niemand schaute her. Ich war der sprichwörtliche umstürzende Baum in einem menschenleeren Wald.
    Und ein paar Augenblicke später schlenderte ich nur wenige Schritte hinter ihm her, ein bedrohlicher junger Mann vielleicht, der die kleinen Gruppen von harten Jungs durchstach, die hier den Weg versperrten, und seiner Beute durch die Glastür eines riesigen, eisgekühlten Drugstores folgte. Ah, welch ein Zirkus für die Augen - diese niedrige Höhle -, vollgestopft mit allen nur vorstellbaren eingepackten und konservierten Eßwaren, Toilettenartikeln und Frisierbedarf, lauter Dingen, die es in dem Jahrhundert meiner Geburt zu neunzig Prozent noch gar nicht gab.
    Ich rede von Binden, medizinischen Augentropfen, Plastikhaarnadeln, Filzmarkern, Cremes und Salben für alle benennbaren Teile des menschlichen Körpers, Spülmittel in allen Regenbogenfarben und kosmetischen Haarwaschmitteln in Farben, die es vorher noch nie gab und die auch noch keinen Namen haben. Kann man sich Ludwig XVI. vorstellen, wie er einen laut knisternden Plastikbeutel mit solchen Wundern öffnet? Was würde er von Kaffeebechern aus Styropor halten, von Schokokeksen in Zellophan, von Stiften, denen die Tinte niemals ausgeht?
    Na ja, ich habe mich selbst noch nicht völlig an diese Dinge gewöhnt, obwohl ich die Fortschritte der industriellen Revolution seit zwei Jahrhunderten mit eigenen Augen beobachte. So ein Drugstore kann mich stundenlang in seinen Bann ziehen, und manchmal stehe ich ganz versunken mittendrin.
    Aber jetzt hatte ich ein Opfer im Visier, nicht wahr? Für Time und Vogue wäre später noch Zeit, ebenso wie für Übersetzungscomputer für die Jackentasche und Armbanduhren, die einem auch dann noch die Zeit ansagen, wenn man mit ihnen den Ozean durchschwimmt.
    Warum war er hierher gekommen? Die jungen kubanischen Familien mit ihren Babys im Schlepptau waren nicht sein Stil. Dennoch wanderte er ziellos durch die engen, vollen Gänge und achtete nicht auf die Hunderte von dunklen Gesichtern und die schnellen Salven von spanischen Worten ringsumher, unbemerkt von allen außer mir, der sah, wie er mit rotgeränderten Augen die vollgestopften Regale betrachtete.
    Gott, war er dreckig - der letzte Rest von Anstand verschlungen von seiner Manie, das Gesicht zerfurcht, der Hals streifig vor Schmutz. Wird es mir gefallen? Zum Teufel, er ist ein Sack Blut. Warum mein Glück auf die Probe stellen? Ich könnte keine kleinen Kinder mehr töten, oder? Oder Hafennutten vernaschen und mir dabei sagen, es sei alles völlig in Ordnung, denn immerhin hätten auch sie ihren Teil an Schutenkapitänen vergiftet. Mein Gewissen bringt mich um, nicht wahr? Und wenn man unsterblich ist, kann das ein wirklich langer und schmählicher Tod werden. Ja, sieh ihn dir bloß an, diesen dreckigen, stinkenden, schwerfälligen Mörder. Im Gefängnis kriegt man einen besseren Fraß.
    Und dann ging mir ein Licht auf, als ich noch einmal in seinen Geist eindrang, wie man einen Kürbis aufschneidet. Er weiß nicht, was er ist! Er hat seine eigenen Schlagzeilen nie gelesen! Er erinnert sich
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