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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Autoren: Anne Rice
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tatsächlich nicht an irgendwelche Episoden seines Lebens in klar erkennbarer Reihenfolge und könnte die Morde, die er begangen hat, gar nicht wahrheitsgemäß gestehen, weil er sich nicht wirklich an sie erinnert, und er weiß auch nicht, daß er heute nacht töten wird! Er weiß nicht, was ich weiß!
    Ach, wie traurig und schmerzlich - ich habe die allerschlechteste Karte gezogen, kein Zweifel. O Gott! Was habe ich mir dabei gedacht, diesen hier zu jagen, wo doch die sternenhelle Welt voll ist von böseren, gerisseneren Bestien? Ich hätte gern geweint.
    Aber dann kam der provokative Augenblick. Er hatte die alte Frau gesehen, hatte ihre nackten, runzligen Arme gesehen, den kleinen Buckel auf ihrem Rücken, ihre dünnen, zitternden Schenkel unter den pastellfarbenen Shorts. Müßig spazierte sie durch das grell fluoreszierende Licht und genoß das Summen und Dröhnen ihrer Umgebung; ihr Gesicht lag halb verborgen unter einem grünen Plastikschirm, und ihr Haar war zusammengezwirbelt und mit schwarzen Nadeln hinten an ihrem kleinen Kopf hochgesteckt.
    In ihrem Einkaufskorb hatte sie eine Plastikflasche mit einem halben Liter Orangensaft und ein Paar Pantoffeln, die so weich waren, daß man sie zu einer ordentlichen kleinen Rolle zusammendrehen konnte. Dazu legte sie jetzt noch mit sichtlicher Freude einen Paperback-Roman aus dem Regal, den sie schon gelesen hatte, dennoch aber liebevoll befühlte, während sie davon träumte, ihn noch einmal zu lesen, wie man alte Bekannte noch einmal besucht. Ein Baum wächst in Brooklyn. Ja, der hat mir auch gefallen.
    In Trance klemmte er sich hinter sie, so dicht, daß sie seinen Atem im Nacken spüren mußte. Mit dumpfen, stupiden Augen beobachtete er, wie sie sich Stück für Stück näher zur Kasse schob und dabei ein paar schmutzige Dollarscheine aus dem schlaffen Kragen ihrer Bluse zog.
    Und dann gingen sie zur Tür hinaus, er mit dem apathischen, angestrengten Schritt eines Rüden, der einer läufigen Hündin folgt, sie langsam; ihr grauer Beutel baumelte schwer an den ausgeschnittenen Tragegriffen, und in weitem, ungeschicktem Bogen umging sie die Horden lärmender, frecher Halbwüchsiger auf der Piste. Spricht sie mit sich selbst? Anscheinend. Ich las nicht in ihrem Kopf, im Kopf dieses kleinen Wesens, das jetzt schneller und schneller ging. Ich las im Kopf des Monstrums hinter ihr, das ganz und gar außerstande war, sie als Summe ihrer Teile zu sehen.
    Bleiche, hilflose Gesichter blitzten in seinen Gedanken auf, während er hinter ihr hertrottete. Er lechzte danach, auf altem Fleisch zu liegen; er lechzte danach, die Hand auf einen alten Mund zu pressen.
    Als sie ihr kleines, ärmliches Apartmenthaus erreichte, das wie alles hier in diesem schmuddeligen Teil der Stadt aussah, als sei es aus zerbröckelndem Kalk gebaut, und von mitgenommenen Palmstrünken bewacht wurde, blieb er jäh und schwankend stehen und sah stumm zu, wie sie durch den schmalen, gefliesten Hof und die staubiggrüne Zementtreppe hinaufging. Er merkte sich die Nummer auf ihrer angestrichenen Tür, als sie aufschloß, oder besser gesagt, er verbiß sich in diese Stelle, und dann lehnte er sich rücklings an die Mauer und fing an, sehr spezifisch davon zu träumen, wie er sie tötete, in einem konturlosen, leeren Schlafzimmer, das aus kaum mehr als einem bißchen verwischter Farbe und Licht zu bestehen schien.
    Ah, sieh nur, wie er an der Mauer lehnt, als sei er erstochen worden, und wie sein Kopf zur Seite rollt. Unmöglich, sich far ihn zu interessieren. Wieso bringe ich ihn nicht sofort um?
    Aber die Augenblicke tickten dahin, und der Abend verlor seinen dämmrigen Glanz. Die Sterne strahlten immer heller. Wind kam und ging.
    Wir warteten.
    Durch ihre Augen sah ich ihr Wohnzimmer, als könnte ich tatsächlich durch Wände und Decken sehen - sauber, wenngleich vollgestopft mit uninteressanten alten Möbeln, häßlich furniert, rundschultrig, ohne Bedeutung für sie. Aber alles war poliert mit einem Duftöl, das sie liebte. Neonlicht fiel durch die Nylongardinen, milchig und freudlos wie der Blick in den Hof dort unten. Aber sie hatte den behaglichen Schein ihrer kleinen, sorgfältig verteilten Lampen. Das war es, was ihr wichtig war.
    In einem Ahornschaukelstuhl mit abscheulichem Karopolster saß sie gefaßt, eine winzige, aber würdevolle Gestalt, das aufgeklappte Taschenbuch in der Hand. Welch ein Glück, noch einmal mit Francie Nolan zusammenzusein. Ihre schmalen Knie waren jetzt kaum verhüllt
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