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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Autoren: Anne Rice
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anfallsartigen, fragmentarischen Visionen in das Land des buchstäblichen Todes hinüberwechseln. Ah, es war Zeit, mich anzukleiden für den Mann meiner Träume.
    Aus dem gewohnten Wirrwarr frischgeöffneter Pappschachteln, Koffer und Truhen wählte ich einen Anzug aus grauem Samt, schon lange ein bevorzugtes Kleidungsstück von mir, zumal wenn der Stoff dick ist und nur einen sehr zurückhaltenden Glanz aufweist. Nicht eben naheliegend für diese warmen Nächte, wie ich zugeben mußte, aber ich spüre ja die Hitze und Kälte nicht wie ein Mensch. Und das Jackett war schlank geschnitten, mit schmalen Revers, sehr schlicht und fast wie eine Reitjacke mit der betonten Taille, oder, treffender gesagt, wie einer dieser anmutigen alten Gehröcke früherer Zeiten. Wir Unsterblichen haben ja immer etwas übrig für altmodische Kleidung, für Kleidung, die uns an das Jahrhundert erinnert, in dem wir in die Finsternis geboren wurden. Manchmal läßt sich das wahre Alter eines Unsterblichen einfach am Schnitt seiner Kleider erkennen.
    Was mich betrifft, so kommt es auch auf den Stoff an. Das achtzehnte Jahrhundert war so überaus strahlend! Ich ertrage es nicht, ohne wenigstens einen Hauch von Glanz zu sein. Und dieser hübsche Gehrock stand mir tadellos, zusammen mit der einfachen, engen Samthose. Was das weiße Seidenhemd anging, so war sein Stoff so weich, daß man das ganze Stück in einer Hand zusammenknüllen konnte. Warum sollte ich, so dicht auf meiner unzerstörbaren und sonderbar empfindsamen Haut, irgend etwas anderes tragen? Und dann die Stiefel. Ah, sie sahen aus wie alle meine feinen Schuhe in letzter Zeit. Ihre Sohlen waren makellos, denn sie berührten Mutter Erde so selten.
    Ich schüttelte mein offenes Haar, die gewohnte dichte Mähne von blond glänzenden, schulterlangen Wellen. Wie würde ich in den Augen Sterblicher aussehen? Ich weiß es ehrlich nicht. Ich verdeckte meine blauen Augen wie immer mit einer dunklen Brille, damit sie mit ihrem Strahlen nicht wahllos magnetisierend und bezaubernd wirkten - was wirklich lästig ist -, und über meine zarten weißen Hände mit ihren verräterischen, glasklaren Fingernägeln zog ich die üblichen weichen grauen Lederhandschuhe.
    Ah, noch etwas ölig-braune Tarnung für die Haut. Ich strich mir die Lotion über die Wangenknochen und das entblößte Stück Hals und Brust.
    Ich begutachtete das Ergebnis im Spiegel. Immer noch unwiderstehlich. Kein Wunder, daß ich in meiner kurzen Karriere als Rocksänger so ein Bombenerfolg war. Und als Vampir war ich immer schon ein Knüller. Den Göttern sei Dank: Ich war auf meinen luftigen Wanderungen nicht unsichtbar geworden, kein Vagabund, der hoch über den Wolken schwebte, leicht wie ein Ascheflöckchen im Wind, Bei dem Gedanken hätte ich weinen können.
    Die Großwildjagd hat mich immer in die Realität zurückgebracht. Ihn aufspüren, auf ihn warten und ihn fassen, wenn er im Begriff ist, seinem nächsten Opfer den Tod zu bringen; ihn langsam nehmen, schmerzhaft, und dabei in seiner Bösartigkeit schwelgen und durch die schmutzige Linse seiner Seele einen Blick auf alle seine früheren Opfer werfen …
    Bitte verstehen Sie: Es liegt nichts Edles darin. Ich halte es nicht für denkbar, daß die Errettung eines einzelnen armen Sterblichen vor einem solchen Dämon meine Seele erlösen kann. Ich habe zu oft Leben genommen - es sei denn, man glaubte, daß die Macht einer einzigen guten Tat grenzenlos ist. Ich weiß nicht, ob ich das glaube oder nicht. Was ich aber glaube, ist folgendes: Das Böse in einem einzigen Mord ist grenzenlos, und meine Schuld ist wie meine Schönheit - ewig. Mir kann nicht verziehen werden, denn es gibt niemanden, der mir alles verzeihen kann, was ich getan habe.
    Trotzdem gefällt es mir, diese Unschuldigen vor ihrem Schicksal zu erretten. Und es gefällt mir, meine Mörder zu mir zu nehmen, weil sie meine Brüder sind und wir zusammengehören, und warum sollten nicht sie in meinen Armen sterben, statt irgendeines armen, erbärmlichen Sterblichen, der nie jemandem absichtlich etwas Böses getan hat? Das sind meine Spielregeln. Ich spiele nach diesen Regeln, weil ich sie gemacht habe. Und ich habe mir vorgenommen, die Leichen diesmal nicht herumliegen zu lassen; ich würde mich bemühen zu tun, was die anderen mir immer befohlen haben. Dennoch… es machte mir gewöhnlich Spaß, den Kadaver für die Behörden zurückzulassen. Es machte mir Spaß, später den Computer anzuwerfen, wenn ich wieder in
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