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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Autoren: Anne Rice
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Marmorfliesen in den Korridoren.
    Ich wollte meine Lippen auf ihre Erinnerungen drücken, auf den Klang ihrer hohen Absätze, die auf dem Marmorboden klapperten, auf das Bild ihrer glatten Wade in dem reinseidenen Strumpf, den sie so behutsam überstreifte, um ihn nicht mit ihren langen, lackierten Fingernägeln zu zerreißen. Einen Augenblick lang sah ich ihr rotes Haar. Ich sah ihren extravaganten, potentiell grauenvollen und doch bezaubernden gelbkrempigen Hut.
    Das ist Blut, das zu genießen sich lohnt. Und ich lechzte danach, lechzte danach wie nur selten in all den Jahrzehnten. Die unzeitgemäße Fastenzeit war beinahe mehr gewesen, als ich ertragen konnte. O Gott, ich wollte sie so gern töten!
    Unten auf der Straße kam ein leises, gurgelndes Geräusch über die Lippen des dummen, täppischen Mörders. Es bahnte sich seinen Weg durch den tosenden Sturzbach anderer Geräusche, der sich in meine vampirischen Ohren ergoß.
    Und endlich stieß die Bestie sich taumelnd von der Mauer ab, schwankte, als wolle sie lang hinschlagen, tappte dann auf uns zu, durch den kleinen Hof, die Treppe herauf.
    Soll ich ihm erlauben, sie zu erschrecken? Es erscheint mir sinnlos. Ich habe ihn im Visier, oder? Trotzdem erlaubte ich ihm, sein kleines Metallwerkzeug in das runde Loch in ihrem Türknopf zu stecken, ich gab ihm Zeit, das Schloß aufzubrechen. Die Kette riß aus dem verrotteten Holz.
    Er trat ins Zimmer, starrte sie ausdruckslos an. Sie war entsetzt und drückte sich in ihren Sessel, und das Buch fiel ihr vom Schoß.
    Ah, aber dann sah er mich in der Küchentür - einen schattenhaften jungen Mann in grauem Samt, die dunkle Brille auf die Stirn geschoben. Ich starrte ihn an, ebenso ausdruckslos wie er selbst. Sah er diese irisierenden Augen, diese Haut, die wie poliertes Elfenbein ist, Haar wie eine lautlose Explosion aus weißem Licht? Oder war ich nur ein Hindernis zwischen ihm und seinem gespenstischen Ziel, und alle Schönheit verschwendet?
    Eine Sekunde später rannte er davon. Er war schon die Treppe hinuntergesprungen, als die alte Frau schrie und zu der hölzernen Tür stürzte, um sie zuzuschlagen.
    Ich folgte ihm und machte mir nicht die Mühe, dabei terra firma zu berühren; einen Moment lang verharrte ich schwebend unter der Straßenlaterne und ließ mich von ihm sehen, als er um die Ecke kam. So kamen wir einen halben Block weit, bevor ich auf ihn zutrieb, ein Schatten nur für die Sterblichen, die sich nicht die Mühe machten, mich zu bemerken. Dann gefror ich neben ihm, und ich hörte ihn stöhnen, als er wieder zu rennen anfing.
    Mehrere Straßen weit spielten wir dieses Spiel. Er rannte, er blieb stehen, er sah mich hinter sich. Der Schweiß strömte über seinen Körper, ja, der dünne Synthetikstoff seines Hemdes war bald durchscheinend davon und klebte an der glatten, haarlosen Haut seiner Brust.
    Endlich kam er an seiner schmierigen Absteige an und polterte die Treppe hinauf. Ich war in der kleinen Kammer im obersten Stock, als er hereinkam. Bevor er aufschreien konnte, hatte ich ihn im Arm. Der Gestank seiner schmutzigen Haare stieg mir in die Nase, vermischt mit dem dünnen Säuregeruch der Chemiefasern seines Hemdes. Aber das machte jetzt nichts mehr. Er war stark und warm in meinen Armen, ein saftiger Kapaun; seine Brust schmiegte sich wogend an meine, und der Geruch seines Blutes durchflutete mein Hirn. Ich hörte, wie es sich durch Ventrikel und Ventile und schmerzhaft verengte Gefäße pulsierte, und ich leckte daran im zarten roten Fleisch unter den Augen.
    Sein Herz quälte sich und drohte zu bersten - vorsichtig, vorsichtig, zerquetsche ihn nicht. Ich ließ meine Zähne in die nasse, ledrige Haut an seinem Hals dringen. Hmmm. Mein Bruder, mein armer, verwirrter Bruder. Aber das hier war stark, das war gut.
    Der Quell öffnete sich; sein Leben war ein Abfluß. All die alten Frauen, die alten Männer. Sie schwammen als Kadaver im Strom, sie purzelten ohne Sinn umeinander, während er in meinen Armen erschlaffte. Kein Kitzel. Zu leicht. Keine Gerissenheit. Keine Bosheit. Gefühllos wie eine Echse war er gewesen, die Fliege um Fliege verschluckt. Gott, dies zu kennen, das bedeutet, die Zeit zu kennen, als die riesigen Reptilien die Erde beherrschten, als eine Million Jahre lang nur ihre gelben Augen den fallenden Regen und die aufsteigende Sonne sahen.
    Schon gut. Ich ließ ihn los, und er rutschte lautlos aus meiner Umarmung. Ich war randvoll von seinem Säugetierblut. Gut genug. Ich schloß
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