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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Autoren: Anne Rice
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von der geblümten Baumwollkutte, die sie aus dem Schrank geholt hatte, und sie trug die kleinen blauen Pantoffeln wie Söckchen über ihren kleinen, unförmigen Füßen. Das lange graue Haar hatte sie zu einem dicken, anmutigen Zopf geflochten.
    Auf dem kleinen Schwarzweißbildschirm vor ihr stritten sich lautlos tote Filmstars miteinander. Joan Fontaine glaubt gerade, Cary Grant will sie umbringen. Und nach seinem ‘Gesichtsausdruck zu urteilen, sah es für mich auch ganz danach aus. Wie konnte irgend jemand überhaupt Vertrauen zu Cary Grant haben –zu einem Mann, der aussah, als sei er durch und durch aus Holz?
    Sie brauchte nicht zu hören, was sie sagten; sie hatte diesen Film nach ihrer eigenen sorgfältigen Zählung schon an die dreizehnmal gesehen. Den Roman auf ihrem Schoß hatte sie erst zweimal gelesen, und so würde sie dessen Absätze mit besonderem Vergnügen noch einmal studieren, denn diese kennt sie noch nicht auswendig.
    Aus dem schattendunklen Garten unten erkannte ich ihr ordentliches, ungebrochenes Selbstbild, das frei war von Dramatik und abgetrennt von dem anerkannt schlechten Geschmack, der sie umgab. Ihre wenigen Schätze konnten in einem Schränkchen verborgen sein. Das Buch und der leuchtende Bildschirm waren ihr wichtiger als sonst irgend etwas von dem, was sie besaß, und sie war sich der Spiritualität dieser beiden Dinge wohlbewußt. Nicht einmal die Farbe ihrer funktionalen, stillosen Kleidung war ihrer Sorge wert.
    Mein streunender Mörder war einer Lähmung nahe, und in seinem Kopf herrschte ein Tumult von Momenten, die so persönlich waren, daß sie sich jeder Interpretation widersetzten.
    Ich glitt um das kleine Haus herum und fand die Treppe zu ihrer Küchentür. Das Schloß gab sofort nach, als ich es ihm befahl. Und die Tür öffnete sich, als hätte ich sie berührt, was ich nicht hatte.
    Lautlos schlüpfte ich in den kleinen, mit Linoleum ausgelegten Raum. Der Gasgestank von dem kleinen weißen Herd war ekelerregend. Der Geruch der Seife in der kleinen Keramikschale war es ebenfalls. Aber der Raum rührte sofort an mein Herz. Wunderschön das geliebte Porzellan in Chinesischblau und Weiß, ordentlich gestapelt, Teller zur Ansicht aufgestellt. Und schau nur die eselsohrigen Kochbücher! Und wie fleckenlos der Tisch ist mit seinem glänzenden Wachstuch in reinstem Gelb. Wächserner grüner Efeu sprießt aus einer runden Schale mit klarem Wasser, die einen einsamen, bebenden Lichtkreis an die Decke malt.
    Aber was meine Gedanken erfüllte, als ich starr dastand und die Tür mit den Fingerspitzen ins Schloß drückte, war die Tatsache, daß sie keine Angst vor dem Tod hatte, während sie ihren Betty-Smith-Roman las und gelegentlich einen Blick auf den flimmernden Bildschirm warf. Sie hatte keine innere Antenne, mit der sie die Anwesenheit des Irren entdeckte, der da im Wahnsinn versunken auf der Straße stand, oder des Monstrums, das jetzt in ihrer Küche spukte.
    Der Mörder war so sehr in seine Halluzinationen vertieft, daß er die Vorübergehenden gar nicht bemerkte. Er sah den Polizeiwagen nicht, der vorbeirollte, sah auch nicht die mißtrauischen und absichtlich drohenden Blicke der uniformierten Sterblichen, die alles über ihn wußten, auch, daß er heute nacht wieder zuschlagen würde, die aber nicht wußten, daß er es war.
    Ein dünner Speichelfaden zog sich über sein unrasiertes Kinn. Nichts war real für ihn - nicht sein Leben bei Tag, nicht die Angst vor der Entdeckung -, nur der elektrische Schauder, den diese Halluzinationen durch seinen gedrungenen Körper und die schwerfälligen Arme und Beine laufen ließen. Seine linke Hand zuckte plötzlich. Sein linker Mundwinkel bebte.
    Ich haßte diesen Kerl! Ich wollte sein Blut nicht trinken. Er war kein Mörder mit Klasse. Es war ihr Blut, wonach ich mich sehnte.
    Wie gedankenvoll sie war in ihrer einsamen Stille, wie klein, wie zufrieden; ihre Konzentration war wie ein feiner Lichtstrahl, als sie jetzt und hier die Sätze der Geschichte las, die sie so gut kannte. Sie reiste, reiste zurück zu den Tagen, da sie dieses Buch das erstemal gelesen hatte, in einer vollbesetzten Eisdiele an der Lexington Avenue in New York City, als schick gekleidete junge Sekretärin in einem roten Wollrock und einer weißen Rüschenbluse mit Perlmuttknöpfen an den Manschetten. In einem steinernen Büroturm hatte sie gearbeitet, unendlich prächtig war er gewesen, mit prunkvollen Messingtüren an den Aufzügen und dunkelgelben
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