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Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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sich keuchend auf den Ellbogen.
    Die Vögel waren verstummt.
    Der Wald schien entsetzt innezuhalten.
    Torak stand auf. Der Wind drehte sich und blies jetzt unangenehm frisch von Osten. Die Bäume erschauerten. Sie tuschelten miteinander. Torak hätte gern gewusst, worüber sie sprachen. Aber im Grunde wusste er es, denn er spürte es genauso: Etwas fegte wie ein Windstoß durch den Wald.
    Sie kommt.
    Eine Krankheit.
    Torak lief seinen Köcher und Bogen holen. Das Rindenbündel konnte warten. Er musste ins Lager zurück und die Raben warnen.

Kapitel 2

    »WO IST FIN-KEDINN?«, rief Torak, als er ins Rabenlager kam.
    »Der ist im Nachbartal«, erwiderte ein kauender Mann, der damit beschäftigt war, Lachse auszunehmen. »Hartriegel für Pfeilschäfte sammeln.«
    »Und wo ist Saeunn?«
    »Die Schamanin befragt die Knochen«, erwiderte ein Mädchen, das Fischköpfe auf Sehnen fädelte. »Oben auf dem Felsen. Warte lieber, bis sie runterkommt.«
    Torak knirschte vor Ungeduld mit den Zähnen. Hoch oben auf dem Hüterfelsen sah er die Rabenschamanin kauern, klein und zierlich wie ein Vogel beugte sie sich gebannt über die Knochen. Neben ihr spreizte der Clanhüter unbeholfen die schwarzen Schwingen und gab ein heiseres »Krah!« von sich.
    Wem konnte er sonst noch davon erzählen?
    Renn war auf der Jagd. Oslak, der ihn in seiner Hütte aufgenommen hatte, war nirgends zu sehen. Bei den Räuchergestellen entdeckte er Sialot und Poi, zwei Jungen seines Alters  – aber den beiden hätte er sich am allerletzten anvertraut. Sie konnten ihn nicht leiden, weil er nicht zum Clan gehörte. Die anderen hatten alle Hände voll mit den Fischen zu tun und bestimmt kein Ohr für irgendwelche wüsten Geschichten über einen Kranken draußen im Wald. Als Torak sich so umsah, kam ihm das Erlebte selbst schon ganz unwirklich vor, so friedlich wirkte alles.
    Die Raben hatten ihr Lager dort aufgeschlagen, wo das Breitwasser aus einer Schlucht geschossen kam, donnernd gegen den Felsen brandete und über die Stromschnellen davonschoss. Jeden Sommer kämpften sich die Lachse auf ihrer rätselhaften Wanderung vom Meer in die Berge die Stromschnellen hinauf. Der wütende Fluss schleuderte sie immer wieder zurück, doch sie gaben nicht auf, sprangen wie silbrige Pfeile durch die schäumenden Strudel, bis sie entweder an Entkräftung verendeten, glücklich das ruhigere Wasser oberhalb der Schlucht erreichten oder unterwegs von den Raben mit dem Fischspeer erlegt wurden.
    Um sie zu fangen, hatte man Pfähle ins Flussbett gerammt und den Fluss mit einem aus Weidenruten geflochtenen Steg überbrückt, der gerade ein paar mit Speeren ausgerüstete Fischer zu tragen vermochte. Fische stechen war eine heikle Angelegenheit, und wer dabei ins Wasser fiel, riskierte mindestens, zum Krüppel zu werden, wenn nicht noch Schlimmeres, denn der Fluss kannte kein Erbarmen und die aus den Stromschnellen ragenden Felsen waren scharfkantig wie Raubtierzähne. Doch der Fang war heiß begehrt.
    Die Hütten waren leer und verlassen. Alles drängte sich auf dem Räucherplatz und kümmerte sich um die Ausbeute des Tages, ehe sie verdarb. Männer, Frauen und Kinder schuppten Fische und nahmen sie aus, andere schnitten das rötliche Fleisch von den Gräten, ließen aber die Schwänze unversehrt, damit man die Lachse daran zum Räuchern aufhängen konnte. Sialot und Poi zerstampften Wacholderbeeren, die unter das geräucherte, zerkleinerte Fleisch gemischt wurden, um es haltbar zu machen … oder um den strengen Geschmack zu überdecken, falls es trotzdem schlecht wurde.
    Man ließ nichts umkommen. Die Fischhaut wurde getrocknet und zu wasserdichten Zunderbeuteln verarbeitet, aus Augen und Gräten stellte man Leim her, Leber und Rogen ergaben eine köstliche Beigabe zum Nachtmahl und ein Teil davon wurde abgezweigt und dem Clanhüter und den Geistern der getöteten Lachse geopfert.
    Überall im Wald hatten sich alle möglichen Clans an anderen Flüssen niedergelassen, um an der überreichen Beute teilzuhaben, Eber-, Weiden-, Otter- und Natternclan. Dort, wo keine Menschen lagerten, fanden sich andere Jäger ein: Bären, Luchse, Adler und Wölfe. Alle feierten sie den Zug der wandernden Lachse, der sie nach dem strengen Winter mit neuer Kraft versorgte.
    So war es von allem Anfang an gewesen, Sommer für Sommer. Ein kranker Fremder würde daran wohl kaum etwas ändern.
    Torak sah wieder das verschorfte Gesicht und die vereiterten Augen des Mannes vor sich.
    Oslak trat aus
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