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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Universalschlüssel und betrat die Eingangshalle. Halbdunkel, Marmorimitat, Glastüren. Der Armenier hatte jahrelang in einem Gebäude dieser Art gewohnt. Gebäude, die für den Wohnungsbau das waren, was Formica fürs Holz ist: ein billiges, äußerlich glänzendes Imitat, wo Generationen von Menschen dasselbe gleichförmige Leben führen, ohne Spuren zu hinterlassen.
    Er näherte sich den Briefkästen und entdeckte ein Verzeichnis, in dem die Namen der Mieter und ihre Wohnungsnummern angegeben waren. Götz wohnte im zweiten Stock, Wohnung 204. Stumm stieg Kasdan die Treppe hinauf und ließ den Blick über den Flur schweifen. Niemand. Nur das gedämpfte Geräusch eines Fernsehers war zu hören. Er näherte sich der Nummer 204. Eine lackierte braune Sperrholztür. Das Schloss passte zum Rest. Ein »Zweipunkt«-Schloss, das keine Probleme bereitete. Kein Balkenschloss quer über den Rahmen. Die Polizisten waren noch nicht da gewesen. Es sei denn, Vernoux hätte – unauffällig – vorbeigeschaut. Er musste die Schlüssel in Götz’ Taschen gefunden haben …
    Kasdan hielt das Ohr an die Tür. Nichts zu hören. Er zog das Fragment der Röntgenaufnahme heraus, das er in seiner Tasche zusammengerollt hatte, und zog es zwischen Tür und Rahmen durch. Die Tür war nicht verschlossen – Götz hatte keinerlei Argwohn gehegt. Rasch und energisch zog Kasdan das Fragment von oben nach unten durch den Spalt und drückte gleichzeitig mit der Schulter gegen die Tür. Wenige Sekunden später befand er sich im Innern der Wohnung.
    Kaum hatte er die Diele betreten, hörte er ein Geräusch.
    Eine Fenstertür wurde aufgestoßen.
    Er schrie: »Polizei, stehen bleiben!« und stürmte durch den Flur. Gleichzeitig griff seine Hand ins Leere – er hatte keine Waffe dabei. Er stieß gegen ein Möbelstück, fluchte, eilte weiter, warf nervöse Blicke in die dunklen Räume, an denen er vorbeikam.
    Am Ende des Gangs fand er das Wohnzimmer.
    Die Fenstertür stand offen, und die Gardine bauschte sich im Wind.
    Kasdan sprang auf den Balkon.
    Ein Mann lief am Eisengitter des Parks entlang.
    Wie hatte der Typ aus dem zweiten Stock springen können? Dann erblickte der Armenier den Lieferwagen, der direkt unter dem Balkon stand. Sein Dach war an der Stelle des Aufpralls eingedellt. Ohne weiter nachzudenken, kletterte Kasdan über die Brüstung und sprang.
    Er prallte auf dem Blech auf, ließ sich auf die Seite rollen, hielt sich ungeschickt am Dachgepäckträger fest und purzelte neben der Tür herunter. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, brauchte er einige Sekunden, um sich zu orientieren: die Straße, die Gebäude, die Gestalt, die einen Rucksack trug und bereits nach links in die Avenue Reille einbog.
    Kasdan schäumte vor Wut:
    »Verdammter Mist!«
    Er rannte los. Seine tägliche Disziplin – allmorgendliches Joggen, Muskeltraining, strenge Diät – würde sich nun endlich auszahlen.
    Avenue Reille.
    Der Schatten lief zweihundert Meter vor ihm. In der Dunkelheit glich er einem Hampelmann, der am Schnürchen gezogen wurde: Er ruderte mit den Armen, und der Rucksack schlug im Rhythmus seiner Schritte gegen seine Schultern. Offenbar ein junger Mensch. Der unregelmäßige Takt seiner Schritte verriet seine Panik. Dagegen hatte Kasdan das Gefühl, dass sein Körper immer besser in Schwung kam. Er würde den Mistkerl einholen.
    Der Hampelmann überquerte die Avenue René-Coty. Doch er bog nicht rechts in Richtung Denfert-Rochereau ab – Kasdan hätte gewettet, dass er diese Richtung nehmen würde –, sondern lief auf dem linken Gehsteig weiter geradeaus, entlang dem Trinkwasserspeicher von Montsouris. Kasdan wechselte seinerseits auf die andere Straßenseite. Er kam näher. Nur noch hundert Meter. Die Schritte der beiden Läufer hallten in der finstren Straße an der Außenmauer des riesigen Gebäudes wider, eine Art gigantischer Maya-Tempel mit Abdachungen.
    Noch fünfzig Meter. Kasdan behielt den Rhythmus bei. Doch er musste den Jungen so schnell wie möglich einholen. In einigen Minuten würde er nicht mehr genügend Kraft haben, um ihn mit einem Satz zu Boden zu drücken. Außerdem begriff er, dass sich der Flüchtige in dem Viertel auskannte. Er war nicht zufällig in diese Straße hineingerannt. Er hatte einen Plan. Ein Auto?
    Der Mann überquerte unvermittelt die Avenue und lief auf eine Bushaltestelle zu. Er hielt sich an dem Streckenschild des Pfostens fest, zog sich mit einem Klimmzug hoch und langte mit der anderen Hand nach dem
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