Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat
Autoren: Joanne Harris
Vom Netzwerk:
unwiderstehlichen Drang, mir das Schaufenster anzusehen, das Papier, das die Auslagen verbirgt, herunterzureißen und der erste zu sein – ein absurder Wunsch, da ich sowieso vorhabe, alles zu zerschlagen. Aber ich komme nicht dagegen an. Auf meinen Gummisohlen tappe ich leise auf das Fenster zu, das schwere Kantholz locker in der Hand. Ich habe reichlich Zeit. Zeit genug, um meine Neugier zu befriedigen, wenn mir danach ist. Außerdem ist der Augenblick zu kostbar, um ihn zu vergeuden. Ich will ihn vollkommen genießen.
    5.30 Uhr.
    Ganz vorsichtig ziehe ich das Papier weg, das das Fenster verhüllt. Es löst sich mit einem leisen Rascheln, und ich lege es beiseite, während ich angestrengt nach Geräuschen im ersten Stock lausche. Alles ist still. Mit meiner Taschenlampe beleuchte ich die Auslagen, und einen Moment langvergesse ich fast, warum ich hier bin. Mit Staunen betrachte ich die Köstlichkeiten, die sich vor mir auftürmen, glasierte Früchte und Marzipanblumen, Berge von Pralinen in allen Formen und Farben, Hasen, Enten, Hühner, Küken und Lämmer aus Schokolade schauen mich mit ihren Schokoladenaugen an wie die Terracotta-Armeen aus den chinesischen Königsgräbern, und in der Mitte eine Frauenfigur mit wallendem Haar, deren wohlgeformte braune Arme eine Weizengarbe aus Schokolade halten. Die Details sind kunstvoll ausgearbeitet, die Haare aus dunklerer Schokolade, die Augen mit weißer Kuvertüre aufgemalt. Der Schokoladenduft ist überwältigend, füllt Gaumen und Rachen mit köstlicher Süße. Die Frau mit der Weizengarbe lächelt kaum merklich, als sinnierte sie über irgendwelche Geheimnisse.
    Probier mich. Koste mich. Nasch mich .
    Der Gesang ist lauter denn je, hier an der Quelle der Versuchung. Ich bräuchte nur die Hand auszustrecken, dann könnte ich eine dieser verbotenen Früchte nehmen und ihr geheimes Fleisch kosten. Der Gedanke läßt mich nicht mehr los.
    Probier mich. Koste mich. Nasch mich .
    Niemand würde je davon erfahren.
    Probier mich. Koste mich. Nasch  –
    Warum eigentlich nicht?
    5.40 Uhr.
    Ich werde wahllos irgend etwas herausgreifen. Ich darf mich nicht von meinem Vorhaben ablenken lassen. Eine einzige Praline – das ist kein Diebstahl, sondern Rettung ; sie ist die einzige unter all ihren Brüdern und Schwestern, die der Zerstörung entgehen wird. Gegen meinen Willen zögert meine Hand; wie eine Libelle schwebt sie über diesem Berg von Leckerbissen. Sie liegen in Glasschalen, von Deckeln aus Plexiglas geschützt. Auf den Deckeln kleine Schilder mit den Namen der einzelnen Köstlichkeiten in feiner Schrift. Allein die Namen klingen verlockend. Bitterorangen-Krokant. Aprikosenmarzipan-Kugeln. Pariser Konfekt. WeißeRumtrüffel. Champagnertrüffel. Venusbrüstchen. Meine Wangen werden ganz heiß unter meiner Maske. Wie soll man solche Namen aussprechen, wenn man so etwas kaufen will? Aber sie sehen so wundervoll aus im Schein meiner Taschenlampe, weiße Halbkugeln mit einem Tupfer dunkler Schokolade. Ich nehme eine davon mit Daumen und Zeigefinger. Ich halte sie mir unter die Nase; sie riecht nach Sahne und Vanille. Niemand wird es je erfahren. Mir wird bewußt, daß ich seit meiner Kindheit keine Schokolade mehr gegessen habe, ich weiß kaum, wie viele Jahre das her ist. Und damals war es billige Schokolade mit einem Nachgeschmack nach Zucker und Fett. Ein- oder zweimal habe ich mir im Supermarkt eine bessere Tafel Schokolade gekauft, aber sie war fünfmal so teuer wie die billige Sorte, und ich konnte mir diesen Luxus nur selten leisten. Dies hier ist etwas ganz anderes; die zarte Schokoladenhülle, die sahnige Trüffelmasse im Inneren … Die Praline verströmt ein Aroma wie das Bouquet eines guten Weins, ein Hauch von Zartbitter, von frischgemahlenem Kaffee, Aroma, das sich durch die Wärme voll entfaltet und mir verführerisch in die Nase steigt; sie zergeht mir auf der Zunge wie ein Geschmackssukkubus, der mich aufstöhnen läßt.
    5.45 Uhr.
    Ich sage mir, daß es auf eine weitere Praline nicht ankommt, und probiere noch eine. Auch diesmal verweile ich zunächst bei den Namen. Crème-de-Cassis-Trüffel. Nußsplitter . Ich wähle eine dunkle Praline aus einer Schale mit der Aufschrift Jamaikasplitter . Kandierter Ingwer in einer harten Zuckerhülle, gefüllt mit Kräuterlikör, der ein Aroma ausströmt, in dem Sandelholz und Zimt mit Limone wetteifern … Ich nehme noch eine Praline, diesmal aus einer Schale mit der Aufschrift Pêche au miel millefleurs . Ein Stück
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher