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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat
Autoren: Joanne Harris
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Präsentschachteln beschädigt. Nach ein paar Handgriffen sah das Schaufenster wieder aus wie neu.
    Das Fest war ein voller Erfolg. Es gab Verkaufsstände für Kunsthandwerk, Fanfaren, Narcisse’ Kapelle – ich war überrascht, wie virtuos er Saxophon spielt –, Jongleure, Feuerschlucker. Die Leute vom Fluß waren zurückgekommen – zumindest für den Tag –, und ihre bunten Gestalten belebten das Straßenbild. Einige bauten ihre eigenen Stände auf, flochten Perlen in die Haare der Mädchen, verkauften Marmelade und Honig, bemalten Hände mit Henna oder betätigten sich als Wahrsager. Roux verkaufte Puppen, die er aus Treibholz geschnitzt hatte. Nur die Clairmonts fehlten, aber ich meinte immer wieder, Armande unter den Leuten zu sehen, so als könne sie bei einer solchen Gelegenheit einfach nicht fehlen. Eine Frau mit einem roten Halstuch, ein gebeugter Rücken unter einer grauen Kittelschürze, ein mit Kirschen dekorierter Stohhut, der sich zwischen den Köpfen auf und ab bewegte. Sie schien überall zu sein. Seltsamerweise empfand ich keine Trauer. Nur die wachsende Überzeugung, daß sie jeden Augenblick auftauchen und die Deckel von den Schachteln heben würde, um nachzusehen, was sich darin befand, sich genüßlich die Finger lecken und vor Freude über all den Spaß laut jauchzen würde. Einmal meinte ich sogar, ihre Stimme zu hören, ganzdicht neben mir, als ich mich vorbeugte, um eine Tüte Rumrosinen aus einem Korb zu nehmen, doch als ich mich umsah, war niemand da. Meine Mutter hätte es verstanden.
    Alle Bestellungen wurden abgeholt, und um Viertel nach vier verkaufte ich meine letzte Schachtel Pralinen. Lucie Prudhomme gewann die Ostereiersuche, aber jeder Teilnehmer erhielt ein cornet-surprise , gefüllt mit Schokoladeneiern, Spielzeugtrompeten und Luftschlangen. Ein mit echten Blumen geschmückter Wagen machte Reklame für Narcisse’ Gärtnerei. Ein paar junge Leute trauten sich sogar, unter den strengen Augen des heiligen Hieronymus zu tanzen, und den ganzen Tag lang schien die Sonne.
    Und dennoch fühle ich mich unwohl, als ich mich in unserem stillen Haus mit Anouk hinsetze, um ihr aus einem Märchenbuch vorzulesen. Ich sage mir, daß es nichts weiter ist als die plötzliche Leere, die unvermeidlich auf ein langersehntes Ereignis folgt. Erschöpfung vielleicht, der Schreck über Reynauds Einbruch im allerletzten Moment, die Sonnenhitze, die vielen Leute … Und auch Trauer um Armande, die mich nun überkommt, da die fröhlichen Klänge verstummt sind, Kummer, vermischt mit so vielen anderen widersprüchlichen Gefühlen, Einsamkeit, Verlust, Zweifel und ein seltsam ruhiges Bewußtsein, daß alles seine Richtigkeit hat … Meine liebe Armande. Es hätte dir so viel Spaß gemacht. Aber du hast dein eigenes Feuerwerk gehabt, nicht wahr?
    Am späten Abend kam Guillaume zu Besuch, lange nachdem wir alle Spuren des Festes beseitigt hatten. Anouk wollte gerade zu Bett gehen, in ihren Augen immer noch ein glückliches Leuchten.
    »Darf ich reinkommen?« Sein Hund hat gelernt, auf Befehl Platz zu machen, und wartet brav vor der Tür. Guillaume hält etwas in der Hand. Einen Brief. »Armande hat mich gebeten, Ihnen das zu geben. Nach dem Fest.«
    Ich nehme den Brief. In dem Umschlag fühle ich etwas Kleines, Hartes.
    »Danke.«
    »Ich werde nicht bleiben.« Er schaut mich einen Augenblick lang an, dann streckt er die Hand aus, eine steife, seltsam rührende Geste. Sein Händedruck ist fest und kühl. Ich spüre ein Brennen in den Augen; etwas Glitzerndes fällt auf den Ärmel des alten Mannes – seine oder meine Träne, ich weiß es nicht.
    »Gute Nacht, Vianne.«
    »Gute Nacht, Guillaume.«
    Der Umschlag enthält ein einziges Blatt Papier. Als ich es herausziehe, fällt etwas auf den Tisch … Münzen, denke ich. Die Schrift ist groß und markant.
    Liebe Vianne,
    danke für alles. Ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen. Reden Sie mit Guillaume, wenn Sie mögen – er versteht mich besser als jeder andere. Es tut mir leid, daß ich nicht an Ihrem Fest teilnehmen konnte, aber ich habe es so oft in meiner Phantasie erlebt, daß es nicht mehr so wichtig war. Geben Sie Anouk einen Kuß von mir und eine von den Münzen – die andere ist für das nächste, ich glaube, Sie wissen, was ich meine.
    Ich bin müde, und ich spüre, daß der Wind sich dreht. Ich glaube, Schlaf wird mir guttun. Und wer weiß, vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.
    Ihre Armande Voizin.
    P.S. Gehen Sie lieber nicht
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