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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat
Autoren: Joanne Harris
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zur Beerdigung, alle beide. Das ist Caros Party, und ich nehme an, sie hat ein Recht darauf, wenn ihr so etwas wichtig ist. Laden Sie lieber alle Ihre Freunde auf eine Tasse Schokolade ein. Ich liebe euch alle. A.
    Nachdem ich den Brief gelesen habe, lege ich ihn weg und suche die Münzen. Eine liegt auf dem Tisch, die andere aufeinem Stuhl; zwei Louisdors, die golden in meiner Hand glänzen. Einer für Anouk – und der andere? Instinktiv lege ich eine Hand auf die warme, dunkle Stelle in mir, auf das Geheimnis, das ich bisher noch nicht einmal mir selbst wirklich eingestanden habe.
    Anouks Kopf lehnt sanft an meiner Schulter. Schläfrig summt sie ein Lied für Pantoufle, während ich ihr vorlese. In den letzten Wochen haben wir Pantoufle wenig gesehen; er wurde von greifbareren Spielkameraden verdrängt. Es scheint bedeutsam, daß er jetzt zurückkehrt, wo der Wind sich gedreht hat. Etwas in mir spürt die Unausweichlichkeit der Veränderung. Mein liebevoll konstruiertes Bild von einem seßhaften Leben ist wie die Sandburgen, die wir früher am Strand bauten und die von der Flut fortgespült wurden. Selbst wenn das Meer sie nicht erreicht, werden sie von der Sonne ausgehöhlt, und am nächsten Tag sind sie fast verschwunden. Trotzdem empfinde ich Unmut, fühle ich mich gekränkt. Und dennoch lockt mich der Karnevalswind, der warme Wind aus … woher? Aus dem Süden? Dem Osten? Amerika? England? Es ist nur eine Frage der Zeit. Lansquenet und alles, was dazugehört, erscheint mir mit einemmal ein wenig unwirklich, fängt bereits an, in der Erinnerung zu verblassen. Das Räderwerk kommt zum Stillstand; sein Geräusch verstummt. Vielleicht ist es das, was ich von Anfang an vermutet hatte, daß Reynaud und ich miteinander verkettet sind, daß wir einander Gegengewicht sind, daß ich ohne ihn hier keine Aufgabe habe. Was immer es sein mag, der Ort hat seine Bedürftigkeit verloren; statt dessen ist Zufriedenheit eingekehrt, ein Gefühl der Sättigung, das mich nicht mehr braucht. Überall in den Häusern von Lansquenet lieben sich die Ehepaare, spielen die Kinder, bellen die Hunde, plärren die Fernseher … Ohne uns. Guillaume streichelt seinen Hund und schaut sich Casablanca an. Luc, allein in seinem Zimmer, liest laut und ohne zu stottern Gedichte von Rimbaud. Roux und Joséphine sind dabei, sichin ihrem frischgestrichenen Haus gegenseitig zu entdecken. Radio-Gascogne hat heute abend einen Beitrag über das Schokoladenfest gebracht und stolz über das Festival de Lansquenet-sous-Tannes berichtet. Von nun an werden die Touristen nicht mehr an Lansquenet vorbeifahren. Ich habe das unsichtbare Dorf auf der Landkarte eingetragen.
    Der Wind riecht nach Meer, nach Ozon und gegrilltem Fisch, nach der Küste vor Juan-les-Pins, nach Pfannkuchen und Kokosöl und Holzkohle und Schweiß. So viele Orte, die darauf warten, daß der Wind sich dreht. So viele bedürftige Menschen. Wie lange wird es diesmal dauern? Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Anouk kuschelt sich an meine Schulter, und ich halte sie in meinem Arm, zu fest, denn sie wacht halb auf und murmelt irgend etwas Vorwurfsvolles. La Céleste Praline wird wieder eine Bäckerei werden. Vielleicht auch eine Confiserie-Pâtisserie mit Kitsch an den Wänden und in den Regalen Lebkuchen in Präsentschachteln mit der Aufschrift Souvenir de Lansquenet-sous-Tannes . Zumindest haben wir Geld, mehr als genug, um irgendwo neu anzufangen. In Nizza vielleicht, oder Cannes, London oder Paris. Anouk murmelt im Schlaf. Sie spürt es auch.
    Und doch haben wir Fortschritte gemacht. Keine anonymen Hotelzimmer mehr, kein flackerndes Neonreklameschild, keine Flucht von Norden nach Süden auf Geheiß einer Tarotkarte. Endlich haben wir uns dem Schwarzen Mann gestellt, Anouk und ich, ihn endlich als den erkannt, der er ist; einer, der sich selbst zum Narren hält, eine Karnevalsmaske. Wir können nicht für immer hierbleiben. Aber vielleicht hat er uns den Weg bereitet zu einem anderen Ort, an dem wir bleiben können. Eine Küstenstadt vielleicht. Oder ein Dorf an einem Fluß, umgeben von Maisfeldern und Weinbergen. Unsere Namen werden sich ändern. Und auch der Laden wird einen anderen Namen haben. Truffe Enchantée , vielleicht. Oder Tentations Divines , in Erinnerung an Reynaud. Und diesmal können wir soviel von Lansquenet mitnehmen. Ich halte Armandes Geschenk in derHand. Die Münzen sind schwer. Das Gold schimmert rötlich, beinahe wie Roux’ Haar. Erneut frage ich mich, woher sie es
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