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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat
Autoren: Joanne Harris
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Entsetzen dem Märchen von dem Lebkuchenhaus, von der Hexe, die kleine Kinder hereinlockte und sie aufaß. Wenn ich ihren Laden sehe, mit buntem Papier verhüllt wie ein Geschenk, das darauf wartet, ausgewickelt zu werden,dann frage ich mich, wie viele Leute, wie viele Seelen sie bereits soweit verdorben hat, daß sie nicht mehr erlöst werden können. Armande Voizin. Joséphine Muscat. Paul-Marie Muscat. Julien Narcisse. Luc Clairmont. Sie muß verjagt werden. Und ihr Gör ebenfalls. Egal wie. Für Nettigkeiten ist es zu spät, Vater. Meine Seele ist schon gezeichnet. Ich wünschte, ich wäre wieder zwölf. Ich versuche, mich an meine kindliche Grausamkeit zu erinnern, an den phantasievollen Jungen, der ich einmal war. Der Junge, der die Flasche geworfen und das Übel aus der Welt geschafft hat. Aber diese Zeiten sind vorbei. Ich muß klug vorgehen. Ich darf mein Amt nicht in Verruf bringen. Und doch, wenn ich versagen sollte …
    Was würde Muscat tun? Oh, er ist so brutal, so verabscheuungswürdig. Dennoch hat er die Gefahr lange vor mir erkannt. Was würde er tun? Ich muß mir Muscat zum Vorbild nehmen, Muscat, das Schwein. Er ist brutal, aber gerissen wie ein Schwein.
    Was würde er tun?
    Morgen ist das Schokoladenfest. Morgen wird sich zeigen, ob wir siegen oder unterliegen. Zu spät, die öffentliche Meinung gegen sie aufzubringen. Ich darf mir nicht das geringste zuschulden kommen lassen. Hinter dem verhängten Fenster warten Tausende von Süßigkeiten darauf, verkauft zu werden. Zuckereier, Schokoladenfiguren, Osternester in Geschenkschachteln und mit Schleifen geschmückt, Osterhasen in glitzerndem Cellophan … Morgen werden hundert Kinder vom Läuten der Glocken geweckt werden, doch ihr erster Gedanke wird nicht sein Er ist auferstanden !, sondern Schokolade ! Ostereier ! Aber was wäre, wenn es gar keine Schokolade und keine Ostereier mehr gäbe?
    Der Gedanke durchzuckt mich wie ein Blitz. Einen Augenblick lang bin ich von Freude überwältigt. Das schlaue Schwein in mir grinst und tanzt. Ich könnte in ihr Haus einbrechen, sagt es zu mir. Die Hintertür ist alt und morsch. Ich könnte sie aufhebeln. Mich mit einem Knüppel in denLaden schleichen. Schokolade ist zerbrechlich, leicht zu zerstören. Fünf Minuten würden ausreichen. Sie schläft in der oberen Etage. Vielleicht würde sie es noch nicht einmal hören. Außerdem würde ich schnell sein. Und ich würde mir eine Maske überziehen, so daß sie, selbst wenn sie mich sieht … Alle würden Muscat für den Täter halten – ein Racheakt. Der Mann ist nicht mehr hier, um die Tat abzustreiten, und außerdem …
    Vater, haben Sie sich bewegt? Einen Moment lang war ich mir sicher, daß Ihre Hand sich bewegt hätte, die ersten beiden Finger sich gekrümmt hätten wie zum Segen. Wieder dieses Zucken, wie bei einem Schützen, der von vergangenem Kampfgetümmel träumt. Ein Zeichen.
    Der Herr sei gelobt. Ein Zeichen.
    Sonntag, 30. März
    Ostersonntag, 4.00 Uhr morgens
    Ich habe kaum geschlafen. Ihr Fenster war bis gegen zwei Uhr erleuchtet, und selbst nachdem es dunkel geworden war, wagte ich noch nicht loszuschlagen, aus Angst, sie könnte noch wach liegen. Ich blieb in meinem Sessel sitzen und döste noch zwei Stunden vor mich hin, hatte jedoch den Wecker gestellt, um nicht zu verschlafen. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Ich träumte so unruhig, daß ich immer wieder aus dem Schlaf fuhr. Ich glaube, ich sah Armande im Traum – die junge Armande, obwohl ich sie damals gar nicht gekannt habe –, sah sie in einem roten Kleid über die Felder jenseits von Les Marauds laufen, das lange, schwarze Haar flog wie ein Banner im Wind. Oder vielleicht war es auch Vianne, und ich verwechsle die beiden. Dann träumte ich von dem Feuer in Les Marauds , von der Schlampe und ihrem Kerl, von den roten, ausgetrockneten Ufern desTannes und von Ihnen, Vater, von Ihnen und meiner Mutter in der Kanzlei … Die ganze bittere Ernte jenes Sommers drang in meine Träume ein, und ich wühlte genüßlich darin wie ein Schwein, das mit seiner gierigen Schnauze nach Trüffeln sucht.
    Um vier erhebe ich mich aus meinem Sessel. Ich habe in meinen Kleidern geschlafen und lege Soutane und Kragen ab. Die Kirche hat mit dieser Sache nichts zu tun. Ich mache Kaffee, sehr starken Kaffee, aber ohne Zucker, obwohl die Fastenzeit eigentlich beendet ist. Ich sage eigentlich. In meinem Herzen weiß ich, daß Ostern noch nicht da ist. Er ist noch nicht auferstanden. Wenn
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