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Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Titel: Charlotte Und Die Geister Von Darkling
Autoren: Michael Boccacino
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jemandem etwas aufzwinge.«
    Nanny Prum seufzte, zuckte ihre großen Schultern und ließ den Jungen los.
    »Wenn Sie darauf bestehen. Ich helfe den Jungs mit ihren Mänteln.«
    Ich half Nanny Prum dabei und folgte ihnen dann aus dem Haus hinaus in den Sonnenschein. Wir schritten nebeneinander, während die Buben vorausspazierten; Paul, still und versunken mit den Händen in den Taschen, und James, hüpfend und laufend und aus vollen Kräften etwas Unverständliches singend. Wir folgten der Zufahrt bis zum Eingangstor und nahmen die Straße hinab zum Dorf. Blackfield erstreckte sich am Fuß desHügels, der seinerseits Everton das notwendige Maß an Würde und Bedeutung verlieh.
    Das Dorf war eine Ansammlung strohgedeckter Gebäude und gepflasterter Straßen; ein kleiner, erbaulicher Ort trotz des Umstandes, dass er zwei Schänken beherbergte. Fast alle Einwohner betrachteten das als ein Zeichen des Fortschritts und als Beweis dafür, dass sich das Dorf langsam zu einer Stadt mauserte. Nur Mildred Wallace klagte bitterlich gegenüber allen, die es noch hören wollten, dass schon eine Schänke sündhaft sei, dass aber zwei ganz sicher dekadent waren. Nach einer Weile blieb nur noch der arme Mr. Wallace als Zuhörer übrig, denn alle anderen Dorfbewohner verschwanden um die Ecke oder in ihren Häusern, sobald sie Mildred kommen sahen. Ohne Zweifel war dies eines der Dinge, die Mr. Wallace zu häufigen Besuchen in beiden Etablissements anspornten.
    Wir folgten der Straße, bis die Häuser Acker- und Weideland und sanften Hügeln Platz machten. Die kleine St. Michaels Kirche stand auf ihrem niedrigen Hügel am Rand des Dorfes mit ihren Steinmauern und dem idyllischen, gepflegten Pfarrhaus. Der Friedhof befand sich dazwischen, und als wir näher kamen, beschleunigte Paul seine Schritte. Er war durch das Tor und zwischen den Grabsteinen hindurchgerannt, bevor mir klar wurde, weshalb wir hierhergekommen waren. James holte seinen Bruder ein. Beide knieten vor einem großen Grabstein, auf dem der Name ihrer Mutter zu lesen war. Ihr Tod lag erst drei Monate zurück, weshalb die Erde noch frisch war. Nanny Prum hielt mich zurück, als die Buben aufgeregt auf das Stück Erdreich einredeten, in dem ihre Mutter begraben lag. Sie senkte ihre kräftige Stimme zu einem Flüstern, während die Kinder ihrer Mutter alles berichteten, was seit ihrem letzten Besuch geschehen war.
    »Am Anfang kamen sie jeden Tag, die armen Dinger. Ich binmir nicht sicher, ob James versteht, was mit ihr geschehen ist. Er hat beim Begräbnis gar nicht geweint. Aber Paul   … ihn hat es schwer getroffen.«
    Noch während sie sprach, war deutlich zu sehen, dass Paul die meiste Zeit damit zubrachte, mit seiner Mutter zu reden. James hingegen wurde von zwei Schmetterlingen abgelenkt. Zu Nanny Prums Entsetzen jagte er hinter ihnen her von einem Grab zum anderen. Mit ihrer ganzen Stimmgewalt rief sie ihm nach: »James Michael Darrow, hör sofort auf damit!«
    Paul beachtete den Bruder gar nicht. Er widmete sich ganz dem Gespräch mit seiner Mutter, zeigte sich aber überrascht, als ich zu ihm ans Grab trat. Ich kniete mich neben ihm nieder.
    »Bitte, hör meinetwegen nicht auf.« Die Sonne brannte herab. Der Junge musterte mich blinzelnd und sah dann zu, wie seine Nanny mit hochgehaltenen Rocksäumen, um die Toten nicht zu stören, hinter seinem Bruder herjagte.
    »Sie findet es merkwürdig.«
    »Für Menschen, die noch niemanden verloren haben, der ihnen nahestand, ist es schwer zu verstehen, wie das ist.«
    Paul blickte auf den Grabstein und fuhr mit den Fingern über den Namen seiner Mutter. »Ich war der Einzige, der nicht dabei war, als sie starb.« Er sah mit fragender Miene zu mir hoch.
    »Wie kam das?«, fragte ich.
    »Ich konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. Ich hab’s versucht, wirklich. Ich hab ihre Hand gehalten und sie auf die Wange geküsst, aber dann begann sie zu wimmern und zu schreien. Das war nicht mehr sie selbst. Es war, als hätte etwas ihren Platz eingenommen, dieses Ding, das da drinnen in ihrer Haut lebendig geworden war, gar nicht mehr menschlich, nur noch nicht tot. Ich wollte nicht, dass sie mich weinen sieht, deshalb bin ich weggeblieben. Ich bin ein Feigling.«
    »Nein, das bist du nicht«, erwiderte ich und legte vorsichtigmeine Hand auf seine Schulter. »Sie hat gewusst, wie dir ums Herz war, da bin ich ganz sicher.«
    »Ich träume fast jede Nacht von ihr«, gestand er seufzend. Ich musste an meine eigenen Träume denken.
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