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Chaplins Katze, Clintons Kater

Chaplins Katze, Clintons Kater

Titel: Chaplins Katze, Clintons Kater
Autoren: Helga Dudman
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kaum für Kinder geeignet sind. Rilke war ein Freund der Familie. Er war 45 Jahre alt, als er die Einleitung für das Mitsou-Buch schrieb. Bereits wenige Jahre später wurde er Großvater, was ihm beträchtlich zu schaffen machte.
    Großvater zu sein, glaubte Rilke, hieß, alt zu sein und sich folglich mit Riesenschritten dem Tod zu nähern.
    In der Einleitung für das Balthus-Buch beschäftigt sich der Dichter mit Themen wie Tod, Verlust und Unsterblichkeit, alles wunderbar ins Reich der Katzen und des Mysteriösen übertragen. Bei seinem Versuch, den trauernden Jungen zu trösten, nutzt Rilke die Gelegenheit, sich auf das Terrain der metaphysischen Unterschiede im Verhalten von Hunden und Katzen zu wagen.
    Zunächst urteilt er die Welt der Hunde und die wohl bekannte Treue dieser Tiere in Bausch und Bogen ab, die »sie dazu zwingt, an den äußersten Grenzen ihres Lebens zu wohnen –
    durch ihren menschlichen Blick, ihre nostalgischen Schnüffeleien…«
    Aber was ist mit den Katzen? »Ihre Welt ist völlig, durch und durch eine Katzenwelt. Glaubst du, sie schauen uns überhaupt an?«, fragt Rilke.

    Wusste irgendjemand je, ob sie auf ihrer Netzhaut unsere unmaßgeblichen Gestalten auch nur für einen winzigen Augenblick wahrzunehmen geruhen oder nicht? Während sie uns anstarren, könnten sie uns auch nur auf magische Art aus ihrer Wahrnehmung ausblenden.

    Es stimmt schon, gesteht Rilke ein, manche von uns Menschen streicheln Katzen, »geben ihrer Schwäche für schmeichlerische Zärtlichkeiten nach«. Aber die Katze ist stets in der Lage, diese Verbindung sofort abzubrechen. Und während die armen Menschen kurz »eine mysteriös apathische Kreatur im Arm halten dürfen«, wurden sie doch tatsächlich nur »bis kurz vor die Schwelle zu einer neuen Welt, der Katzenwelt, geführt…
    wo die Tiere auf eine Art und Weise leben, die keiner von uns je ergründen wird«.

    »Manchmal, in der Dämmerung«, fährt Rilke fort, »galoppiert die Katze von nebenan über meinen Körper, durch meinen Körper hindurch; entweder hat sie mich nicht wahrgenommen oder sie will irgendeinem Beobachter hoch droben klarmachen, dass ich nicht wirklich existiere.«
    Rilke beendet seine kurze, aber komplizierte Einleitung, indem er Balthus, den er ein Jahr später »gewachsen und getröstet« wieder sehen sollte, zur Kunst ermuntert. Lebt Mitsou noch? »Sie lebt in dir.«
    Weil »du dein Kätzchen nicht mehr sehen kannst«, schreibt Rilke dem Jungen, »richtest du all deine Anstrengungen darauf, sie deutlicher zu sehen«. Rilkes abschließende, erwartungsgemäß mysteriöse Worte: »Es gibt keine Katzen.«
    Balthus war als Erwachsener auch nicht viel fröhlicher als Rilke. Auch in seiner Familie kursierten ziemlich viele morbide Gedanken. In den dreißiger Jahren malte der König der Katzen sein Selbstporträt mit der spirituellen Nachfahrin von Mitsou.
    In einer jüngst veröffentlichten und viel diskutierten Autobiografie berichtet eine Amerikanerin, die lange Jahre in Paris verbrachte und die Kunstszene kannte, Balthus habe den größten Teil seines Lebens damit verbracht, seinen aristokratischen Stammbaum zu erfinden. Tatsächlich war er Enkel eines polnischen Kantors und hatte keinerlei Anspruch auf seinen hochgestochenen Namen. Echte Aristokraten und die Pariser Kunstszene lachten ihn zunächst aus; aber er arbeitete so hart, dass er sich bald ein echtes Schloss kaufen konnte. Dort konnte er sich nach Belieben einrichten, »dem prosaischen Zufall des Stammbaums« zum Trotz, und eine Zeit lang funktionierte es ja auch.
    »Ich bedarf eines Schlosses mehr als ein Arbeiter eines Laibs Brot«, sagte Balthus. Er brauchte den Adel, weil er ihn zu »den Maßstäben und Werten zurückführte, die zu Zeiten herrschten, als Titel noch etwas bedeuteten«. Und er betonte seinen
    »echten Hass« auf die ästhetischen Maßstäbe, die in Paris in den dreißiger Jahren vorherrschten. Vielleicht können wir deswegen seine Werke heute genießen: Sie stellen eine Art vorgezogene Postmoderne dar.

    JEREMY
    BENTHAM
    (1748-1832), englischer
    Wirtschaftswissenschaftler, Rechtsanwalt und Philosoph, Begründer der Schule der Volkswirtschaftslehre und der Theorie des Utilitarismus, die besagt, dass Handlungen richtig sind, solange sie nützlich sind, und dass »das größte Glück der größten Zahl« [von Menschen] das einzige Ziel öffentlicher Aktivitäten sein sollte.
    Keine schlechte Idee, oberflächlich betrachtet (wie wir das hier natürlich tun).
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