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Chalions Fluch

Chalions Fluch

Titel: Chalions Fluch
Autoren: Lois McMaster Bujold
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zurück an jene Zeit, als Cazaril in Häusern gelebt hatte und nicht in Löchern. Es schien tausend Jahre her zu sein …
    Geschlagen drehte er um und schlurfte die Straße zurück zur grün gestrichenen Tür der Wäscherei. Die Glocke schlug an, als er sich zögernd ins Innere drückte.
    »Habt Ihr ein Eckchen, wo ich mich hinsetzen kann, gute Frau?«, fragte er die Wäscherin, die auf den Ruf der Glocke herbeieilte. »Ich bin früher fertig geworden als …« Seine Stimme erstarb vor Scham.
    Sie antwortete, indem sie ihre kräftigen Schultern zuckte. »Kommt mit nach hinten. Einen Augenblick noch!« Sie beugte sich unter den Tresen und brachte ein kleines Büchlein zum Vorschein, etwa so lang wie Cazarils Hand und in ungetöntem Leder eingebunden. »Hier ist Euer Buch. Ihr habt Glück, dass ich noch mal die Taschen durchgesehen habe. Sonst wäre jetzt nur noch feuchter Brei davon übrig, das könnt Ihr mir glauben.«
    Erschrocken nahm Cazaril das Büchlein in die Hand. Es musste im dicken Stoff des Mantels verborgen gewesen sein. Er hatte nichts davon bemerkt, als er die Kleidungsstücke in der Mühle so hastig zusammengepackt hatte. Eigentlich gehörte es in die Hände dieser Dorfgeistlichen, zusammen mit dem Rest der Besitztümer des Toten. Na, heute Nacht laufe ich nicht wieder damit zurück, so viel ist sicher. Er würde es zurückbringen, sobald er sich in der Verfassung fühlte.
    Für den Augenblick bedankte er sich bei der Wäscherin und folgte ihr in den Innenhof. Ähnlich wie bei ihren Nachbarn im Badehaus befand sich hier ein tiefer Brunnen, und ein Feuer hielt einen Kessel am Kochen. Ein Quartett junger Frauen schrubbte und platschte bei den Waschbottichen. Die Waschfrau wies Cazaril zu einer Bank an der Wand, und er setzte sich darauf, außer Reichweite der Wasserspritzer. Längere Zeit verfolgte er in einer Art körperloser Entrücktheit diese friedliche, geschäftige Szene. Es gab eine Zeit, da hätte er es mit Verachtung von sich gewiesen, eine Truppe rotgesichtiger Bauernmädchen genauer zu betrachten; er hätte solche Blicke für die feinen, edlen Damen aufgespart. Kein Wunder, dass er nie bemerkt hatte, wie schön Wäscherinnen waren! Kräftig, gesund und fröhlich, bewegten sie sich wie im Tanz. Und sie waren so herzlich und freundlich …
    Schließlich bewegte seine Hand sich in neu erwachter Neugier und blätterte in dem Buch. Vielleicht verriet es den Namen des Verstorbenen und löste dieses Rätsel. Cazaril schlug die Seiten auf und sah, dass sie mit einer dichten Handschrift beschrieben waren, mit einigen kleinen Zeichnungen dazwischen. Doch alles war verschlüsselt.
    Er blinzelte und beugte sich näher heran. Beinahe schon gegen seinen Willen betrachtete er die Sache eingehender. Er war Spiegelschrift; das System der Verschlüsselung beruhte auf dem Austausch von Buchstaben – es konnte eine Weile dauern, den Text zu entziffern. Aber zufällig fand Cazaril ein kurzes Wort dreimal auf der Seite wiederholt, und dies verschaffte ihm den Zugang: Der Kaufmann hatte die simpelste aller Geheimschriften gewählt und sämtliche Buchstaben um eine Stelle verschoben. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, dieses Muster zu variieren. Allerdings war es nicht die ibranische Sprache, wie sie in unterschiedlichen Dialekten in den Königreichen von Ibra, Chalion und Brajar gesprochen wurde. Die Aufzeichnungen waren in Darthacan, das nur in den südlichsten Provinzen von Ibra und jenseits der Berge in Groß Darthaca gesprochen wurde. Und der Mann hatte eine grauenvolle Handschrift gehabt, und eine noch schlimmere Rechtschreibung, und die Grammatik von Darthacan hatte er offensichtlich überhaupt nicht beherrscht.
    Es würde sich doch als schwieriger erweisen, als Cazaril erwartet hatte. Er benötigte Papier, einen Stift, einen stillen Ort, Zeit und gutes Licht, wollte er aus diesem Durcheinander jemals schlau werden. Aber es hätte schlimmer kommen können. Wenigstens war das Buch nicht in schlechtem Roknari verfasst.
    Wie dem auch sein mochte – mit ziemlicher Sicherheit handelte es sich um die Notizen des Toten über magische Experimente, so viel konnte Cazaril jetzt schon sagen. Das hätte ausgereicht, den Mann schuldig zu sprechen und aufzuhängen, wäre er nicht schon tot gewesen. Die Strafen für die Ausübung – nein, für den Versuch – von Todeszaubern waren drastisch. Die Strafe für ein erfolgreiches Ritual wurde hingegen als weniger bedeutsam erachtet, denn nach Cazarils Wissen gab es
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