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Chalions Fluch

Chalions Fluch

Titel: Chalions Fluch
Autoren: Lois McMaster Bujold
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folgt einer Gruppe von Pilgern und lässt der Reihe nach einen jeden seine Geschichte erzählen. Sehr … äh, erbaulich.«
    »Einige Szenen sind sehr, sehr unanständig, Herr«, flüsterte die Novizin.
    »Anscheinend muss ich Ordols Predigt über die Lehren des Fleisches wieder hervorholen. Ich habe der Schwester einen Ablass von den Strafen des Bastards versprochen, zum Ausgleich für ihre Schamesröte. Ich fürchte, sie hat mir geglaubt.« Umegat lächelte.
    »Das Buch würde ich mir gern ausleihen, wenn Ihr damit fertig seid«, sagte Cazaril hoffnungsvoll.
    »Ich lasse es Euch zuschicken, Herr.«
    Cazaril verabschiedete sich, überquerte erneut den fünfseitigen Tempelplatz und machte sich an den Aufstieg. Doch noch bevor der Zangre in Sicht kam, bog er nach links ab und ging zum Stadtpalast des Herzogs dy Baocia. Das wuchtige alte Steingebäude glich dem Palais der Jironals, war allerdings bedeutend kleiner. Es hatte keine Fenster auf dem untersten Stockwerk, und die Flügelfenster des darüber liegenden Geschosses wurden von schmiedeeisernen Gittern geschützt. Das Bauwerk beherbergte derzeit nicht nur den Eigentümer und seine Frau, sondern auch noch die alte Herzogin sowie Lady Ista, die aus Valenda angereist waren. Damit waren die Räumlichkeiten ausgeschöpft, und die vormals schwermütige, leere Stille des Hauses war geschäftigem Treiben gewichen. Cazaril meldete seinen Rang und sein Begehren beim Pförtner an und wurde ohne weitere Nachfragen oder Verzögerungen eiligst hereingebeten.
    Der Pförtner geleitete ihn zu einem hohen, sonnendurchfluteten Raum an der Rückseite des Hauses. Hier saß die Königinwitwe Ista auf einem kleinen, mit einem eisernen Geländer gesäumten Balkon, der einen Blick auf den kleinen Kräutergarten und den Platz vor den Ställen gewährte. Sie schickte ihre Kammerfrau fort und bedeutete Cazaril, auf dem frei gewordenen Stuhl Platz zu nehmen. Sie saßen so dicht beisammen, dass ihre Knie beinahe einander berührten. Istas graubraunes Haar war heute ordentlich geflochten und um ihren Kopf gewunden, und sowohl ihr Gesicht wie auch ihre Kleidung wirkten frischer, als Cazaril es je zuvor erlebt hatte.
    »Was für ein angenehmer Ort«, sagte er und ließ sich auf den Stuhl sinken.
    »Ja, mir gefällt dieses Gemach. Als ich noch ein kleines Mädchen war, wohnte ich hier, wenn mein Vater uns in die Hauptstadt mitnahm – was nicht allzu häufig vorkam. Und das Beste ist, dass ich von hier aus den Zangre nicht sehen kann.« Sie blickte hinunter in den rechtwinkligen Garten, mit Grün geschmückt, beschützt und umfriedet.
    »Letzte Nacht habt Ihr dort am Bankett teilgenommen.« Unter den Augen der anwesenden Gesellschaft hatte er nur ein paar förmliche Worte mit ihr wechseln können. Ista hatte kaum Gelegenheit gehabt, ihm zu seiner Ernennung zum Kanzler und zu seiner Verlobung zu gratulieren; dann war sie zeitig aufgebrochen. »Ihr saht gut aus, muss ich sagen. Iselle wirkte sehr zufrieden.«
    Sie neigte das Haupt. »Ich esse dort, um Iselle eine Freude zu machen. Ich lege keinen Wert darauf, dort zu schlafen.«
    »Ich nehme an, die Geister schweben immer noch im Zangre umher. Obwohl ich sie inzwischen nicht mehr sehen kann – zu meiner großen Erleichterung.«
    »Ich ebenso wenig, weder mit den Augen noch mit dem zweiten Gesicht. Aber ich fühle ihre Gegenwart als Kälte in den Mauern. Vielleicht ist es aber auch nur meine Erinnerung an sie, die mich frösteln lässt.« Sie rieb sich über die Arme, als wolle sie sie wärmen. »Ich verabscheue den Zangre.«
    »Ich verstehe diese unglücklichen Geister jetzt viel besser als damals, als sie mich das erste Mal erschreckt haben«, meinte Cazaril zaghaft. »Anfangs glaubte ich, ihre Verbannung und ihr allmählicher Verfall wären die Folge einer Ablehnung durch die Götter – eine Verdammung. Inzwischen weiß ich, dass es eine Gnade ist. Wenn die Seelen aufgenommen werden, erinnern sie sich an ihr Dasein … die Geister erfahren alle Leben und jeden Augenblick dieser Leben auf einmal, wie die Götter es tun, und sie erinnern sich mit derselben unverfälschten Klarheit daran, mit der Materie sich an ihre Gestalt erinnert. Für manche wäre dieser Himmel so unerträglich wie eine Hölle, und so entlassen die Götter sie ins Vergessen.«
    »Vergessen … Dieses verschwommene Vergessen will mir nun wie der Himmel erscheinen. Ich denke, ich werde darum beten, ein solcher Geist zu werden.«
    Ich fürchte, diese Gnade wird Euch verwehrt
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