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Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser

Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser

Titel: Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
Autoren: V.C. Andrews
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sehen konnte.
    »Ja, ja, ‘s wird Zeit, daß du’s erfährst«, brabbelte sie vor sich hin, warf mir einen schwarzen, selbstgestrickten Schal über und hüllte ihre schmalen, hängenden Schultern in einen ähnlich düsteren Umhang. Sie führte mich an der Hand zur Tür hin und öffnete sie. Sogleich blies ein scharfer Wind herein. In ihrem Bett hinter dem zerschlissenen blaßroten Vorhang brummten Mutter und Vater leise im Halbschlaf. Großmutter schloß die Tür schnell wieder. »Du und ich haben ‘ne wichtige Reise vor uns, dorthin, wo unsere Vorfahren unter der Erde liegen. Hab’s dir schon die ganzen Jahre über zeigen wollen. Und nun gibt’s keinen Aufschub mehr. Die Zeit verrinnt, jawohl. Und eines Tages ist es zu spät.«
    Also schritten meine Großmutter und ich in dieser kalten und verschneiten Nacht zum dunklen Kiefernwald. Eisschollen trieben den Fluß hinunter, und das Heulen der Wölfe erscholl nun aus nächster Nähe. »Jawohl, Annie Brandywine Casteel kann sehr wohl ‘n Geheimnis hüten«, sprach Großmutter wie zu sich selbst. »Die meisten Leute können’s gar nicht, verstehst du. Sind nun mal nicht alle Menschen so auf die Welt gekommen wie ich… hörst du mir überhaupt zu, Mädchen?«
    »Bleibt mir ja nichts anderes übrig, Großmutter. Du brüllst mir ja direkt ins Ohr.«
    Sie hielt mich an der Hand und führte mich immer weiter weg von zu Hause. Es war Irrsinn, jetzt hier draußen zu sein. Warum wollte sie mir ausgerechnet in einer frostigen Winternacht ihr wohlgehütetes Geheimnis preisgeben? Warum gerade mir? Aber ich hatte sie so lieb, daß ich sie den holprigen Pfad hinunterbegleitete. Es schien mir, als gingen wir viele Meilen durch die kalte und finstere Nacht, während die alte Mondkugel auf uns herabschien und so aussah, als stecke sie voller böser Absichten.
    Großmutters großartige Überraschung war nichts weiter als ein öder, unheimlicher Friedhof im fahlen Licht des Wintermondes. Bevor sie zu reden anfing, frischte der Wind auf; ihre dünnen Haare flatterten wild und vermengten sich mit meinen. »Was ich dir nun erzähle, ist das einzige, was ich für dich hab’, Kind. Es ist das einzig Wertvolle, das ich dir geben kann.«
    »Hättest du’s mir nicht auch zu Hause erzählen können?«
    »Niemals«, erwiderte sie trotzig. Großmutter konnte manchmal, wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, so standfest wie ein alter Baum mit unendlich vielen Wurzeln sein. »Dort hörst du mir überhaupt nicht zu, wenn ich dir was erzähle. Aber hier vergißt du’s dein Lebtag nicht mehr.«
    Sie hielt inne, und ihr Blick heftete sich auf ein schmales, kleines Grab. Sie hob ihren Arm und zeigte mit ihrem knorrigen Finger auf den Grabstein aus Granit. Ich starrte darauf und versuchte die Inschrift zu entziffern. Wie seltsam, daß mich meine Großmutter mitten in der Nacht hierher brachte, an einen Ort, wo die Seelen der Toten ihr Unwesen trieben, vielleicht in den Körper eines Lebenden fahren wollten.
    »Solltest deinem Vater verzeihen, daß er so ist, wie er nun mal ist«, fing Großmutter an und schmiegte sich enger an mich, um sich zu wärmen. »Er ist nun mal so, er kann nicht anders; so wie die Sonne nicht anders kann als aufgehen und untergehen.«
    Oh, Großmutter hatte leicht reden. Alte Leute erinnerten sich eben nicht mehr daran, was es hieß, jung zu sein und Angst zu haben.
    »Laß uns nach Hause gehen«, sagte ich schlotternd und wollte sie mit mir fortziehen. »Ich hab’ so viele Geschichten darüber gelesen, was bei Vollmond um Mitternacht auf Friedhöfen geschieht.«
    »Ich hab’ doch mehr Grips, als vor toten, stummen Dingen, die nicht reden und sich nicht bewegen können, mit den Zähnen zu klappern.«
    Sie schloß ihre Arme fester um mich und zwang mich, auf das schmale, eingesunkene Grab zu sehen. »Sei still und hör gut zu, bis ich fertig erzählt hab’. Ich will dir was sagen, was dir helfen wird. Dein Vater hat ‘n ganz bestimmten Grund, warum er so gemein ist zu dir, wenn er dich sieht. Er haßt dich ja in Wirklichkeit gar nicht. Hab’s mir ganz genau durch den Kopf gehen lassen; wenn mein Luke dich anguckt, sieht er ja gar nicht dich, er sieht jemand anderen… Glaub’s Kind, er hat ‘n gutes Herz. Ist in Wirklichkeit ‘n guter Mann, das kann man sagen. Hat seine erste Frau so geliebt, er wär’ fast drauf gegangen, als sie starb. Ist ihr in Atlanta begegnet. Er siebzehn, sie vierzehn Jahre und drei Tage alt. Hat sie mir später erzählt.« Großmutters
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