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Caravan

Titel: Caravan
Autoren: dtv
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Dinge erinnert er sich noch ganz genau. Zuerst erinnert er sich an das
     Bankett und einen klebrigen rosa Nachtisch, von dem er so viel aß, dass ihm später speiübel wurde und er hinten im Wagen eine
     rosa Sauerei machte.
    Zweitens erinnert er sich an den berühmten visionären Helden der Stadt, der sie mit einer langen, langen Rede über Solidarität
     und die Würde der Arbeit willkommen hieß (die Rede hatte seinen Vater so beeindruckt, dass er später immer wieder daraus zitierte).
     Beim Bankett hatten sie neben ihm gesessen, und voller Fürsorge hatte er Andrij immer mehr von dem tückischen rosa Nachtisch
     zugeschanzt – es war sein Wagen gewesen, den Andrij schließlich vollkotzte. Und dieser Mann war blind gewesen. Seine Blindheit
     hatte Andrij tief beeindruckt – wie eine unbegreifliche, furchterregende, alles ausschließende Mauer hinter seinen visionären
     Augen. Andrij hatte die Augen zugekniffen und versucht sich vorzustellen, wie es wäre, hinter einer Mauer der Blindheit zu
     leben. Er tappte herum und lief gegen Gegenstände, bis sein Vater ihm eine Ohrfeige gab und ihm befahl, sich anständig zu
     benehmen.
    Das Dritte, woran er sich erinnert, ist sein erster Kuss. Das Mädchen – es muss die Tochter eines der Delegierten gewesen
     sein – war älter und mutiger als er, langbeinig, mit weißblondem Haar und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Sie roch nach
     Seife und Bubble Gum. Während im Festsaal |34| langweilige brüderliche Reden gehalten wurden, hatten sie beide auf den hallenden Fluren der weitläufigen Stadthalle Fangen
     gespielt. Sie hatten einander die Treppen rauf und runter gejagt, sich in Durchgängen versteckt, quietschend vor Aufregung.
     Am Ende hatte sie sich auf ihn gestürzt und ihn niedergerungen. Sie drückte ihn auf den Steinfußboden und setzte sich mit
     ihrem ganzen Gewicht auf seine Brust. Sie waren außer Atem, lachten, keuchten. Plötzlich beugte sie sich zu ihm herunter und
     küsste ihn – ein nasser, drängender Kuss, ihre Zunge in seinem Mund. Es war ein Kuss der Unterwerfung. Er war so jung und
     so überrascht gewesen, dass er sich nur ergeben konnte. Später hatte sie ihm ein Stück Papier in die Hand gedrückt, auf das
     ihr Name gekritzelt war, mit kleinen Herzen statt der i-Punkte. Vagvaga Riskegipd. Ein unglaublich aufregender Name. Und eine
     Telefonnummer. Er hat sie immer noch, in seinem Geldbeutel ganz hinten, wie einen Talisman. In der Schule, als seine Klassenkameraden
     Russisch oder Deutsch lernten, hatte er Englisch gewählt.
    Er versucht, ihr Gesicht heraufzubeschwören. Helles Haar. Sommersprossen. Den Geruch von Bubble Gum hat er immer noch in der
     Nase. Ein unglaublich aufregender Geruch. Ob sie sich noch an ihn erinnert? Wie sieht sie heute aus? Sie müsste Anfang dreißig
     sein. Was würde sie tun, wenn er plötzlich vor ihrer Tür stünde?
    Es heißt, Angliski-Frauen sind unglaublich sinnlich. Vitali, der da Erfahrung hat, sagt, Angliski-Frauen sind zuerst kalt
     wie Eis, aber wenn sie zu schmelzen anfangen – wenn die Leidenschaft sie heiß macht und sie von innen schmelzen   –, dann sind sie wie ein Fluss, der über die Ufer tritt. Dann gibt es kein Halten mehr bei diesen Vagvagas, bei diesen Mrs.   Browns. Dann muss man als Mann einen kühlen Kopf bewahren, sonst ertrinkt man im Sturzbach ihrer Leidenschaft |35| . Nur, sie an diesen Schmelzpunkt zu bringen – das ist eine wahre Kunst, sagt Vitali. Die Angliska-Frau fühlt sich von schneidigen
     Männern der Tat angezogen, von Männern, die mutig genug sind, gefährliche Reisen zu unternehmen und mit Pralinenschachteln
     durch Schlafzimmerfenster zu klettern und so weiter. Solche Taten bringen das eisige Herz der Angliska-Frau zum Schmelzen.
     Ob es auch Erdbeeren statt Pralinen tun? Auf die anderen Akte dieses Theaters ist er vorbereitet. Er ist für alles bereit.
     Er spürt, wie das pralle Leben durch seine Adern strömt, und er will leben – süßer leben, intensiver leben.
    »Sei ein Mann«, hat sein Vater zu ihm gesagt.
     
    Meine Mutter hat die unangenehme Angewohnheit, die Menschen danach zu beurteilen, wie kultiviert sie sind. Es ist, als hätte
     sie eine felsenfeste Skala der Kultiviertheit im Kopf.
    »Kultiviert sein kostet nichts, Irina«, sagt sie, »und das ist gut so, denn andernfalls wären die Lehrer in der Ukraine sehr
     unkultivierte Menschen.«
    Das Schlimmste ist, dass ich ihre Angewohnheit übernommen zu haben scheine, obwohl ich genau weiß, dass
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